Der Troll nickte und hielt seine Stimme weiter gesenkt. „Das Erste, was wir tun müssen, ist …“
„Darum haben wir uns schon gekümmert.“ Tyrathan blickte über seinen Kopf hinweg. „Zwölf Wachen. Acht von ihnen in Zweiergruppen im Norden, Süden, Westen und Osten. Allesamt Gurubashi, denen man diese Aufgabe als Strafe aufgebürdet hat. Die vier anderen sind Zandalari, sehr jung und unerfahren, drüben bei der Straße, wo es wärmer und trockener ist und man nicht ständig von Ungeziefer geplagt wird.“
Vol’jin zog die Augenbraue hoch.
„Ich verstehe Zandali, schon vergessen? Die Wachen beschweren sich ohne Unterlass, und die Beleidigungen, die zwischen den Gruppen hin und her geworfen werden, sind schrecklich.“
Chen streckte sich. „Der Rahmen um die Tür besteht aus Pfosten, die noch grün sind. Auf der Seite mit dem Schloss sitzt alles fest, aber nicht auf der Seite mit den Angeln. Die unteren Schrauben hab ich schon fast ganz herausgedreht, und die Schrauben oben haben das Holz zersplittert.“
Nun wandte Vol’jin sich erwartungsvoll dem Mönch zu.
Bruder Cuo nickte. „Die Wachinspektion beginnt in fünfzehn Minuten nördlich von hier. Wachwechsel ist alle acht Stunden, das nächste Mal um Mitternacht, sofern das, was Tyrathan gehört hat, stimmt.“
Vol’jin stemmte die Hände gegen die Schenkel und erhob sich, dann verbeugte er sich vor seinen Freunden. „Zwei Stund’n später, und ihr wärt bereits ausgebrochen.“
„Nun, Kao will sie tot sehen, und mir sagt die Aussicht hier nicht zu.“ Der Mensch erwiderte die Verbeugung. „Wir hätten uns auf die Suche gemacht und unterwegs vielleicht den ein oder anderen Donnerkönig niedergestreckt, um uns die Zeit zu vertreiben.“
„Der Donnerkönig wird von Mogu, Saurok und riesig’n Qilen beschützt. Und durch Magie natürlich. Man bräuchte eine Armee, um eine Audienz bei ihm zu bekomm’n.“
Chen runzelte die Stirn. „Dann fliehen wir also?“
Vol’jin nickte. „Wenn wir eine Invasion verhindern wollen, ja.“
Bruder Cuos Brauen wanderten nach oben. „Würden wir dieses Ziel nicht eher erreichen, indem wir den Donnerkönig töten?“
„Vergiss nicht, Herrscher kommandier’n Armeen, aber sie selbst können ein Land weder einnehm’n noch halt’n.“ Der Schattenjäger lächelte kühl. „Wenn wir die töten, die sein Reich für ihn zurückerobern soll’n, schaden wir ihm dadurch mehr. Das wird schlimmer für ihn, als ins Grab zurückkehren zu müss’n.“
Mitternacht kam und ging und mit ihr, wie vorausgesagt, der Wachwechsel. Die Soldaten der neuen Schicht gewöhnten sich schnell ein, indem sie Decken um ihre Körper schlangen und diesen Dienst verfluchten, bei dem sie nicht einmal ein Lagerfeuer entzünden durften. Vol’jin hatte derartige Klagen in vielen Militärlagern gehört; sich über die Kälte oder das Essen oder anmaßende Offiziere zu beschweren, machte neunzig Prozent der Unterhaltungen unter der Truppe aus und diente vor allem dazu, Langeweile oder Furcht fernzuhalten. Es war reine Gewohnheit, und die Welt der Soldaten schrumpfte dabei auf einen winzigen Punkt zusammen, an dem sie außer ihrer Unterhaltung kaum noch etwas registrierten.
Während Tyrathan und Cuo Wache hielten, kümmerten sich Vol’jin und Chen um die Tür. Der Pandaren packte die Gitterstangen, um sich dagegenzustemmen, und der Troll verdrehte den Türrahmen. Indem sie möglichst gleichmäßig Druck auf den Käfig ausübten, hofften sie, möglichst wenige auffällige Geräusche zu verursachen.
Als Vol’jin seine Hände um den Pfosten legte, schnaubte er verächtlich. „Dieses Gefängnis könnte nicht mal einen Gnom halt’n.“ Der Türrahmen war nicht tief genug im Boden verankert. Da sich jedes Loch, das man in diesem Sumpf grub, fast sofort mit Wasser füllte, hatten die Arbeiter vermutlich so lange gegraben, bis sie auf halbwegs festen Schlamm gestoßen waren, und hatten die Pfosten dann darin versenkt.
Der Troll drehte den Pfahl wie einen wackeligen Zahn, und er löste sich mühelos aus seinem Bett. Chen tat anschließend auf der anderen Seite dasselbe, und nun konnten sie die Tür mitsamt dem Rahmen aus dem Käfig drücken. Der Riegel glitt geräuschlos aus dem Schloss, und Vol’jin hatte einen Grund mehr, seine Entscheidung nicht zu bereuen.
Hier im Sumpf zu sterb’n wäre besser, als einen Haufen Schwachköpfe zu kommandier’n.
Chen und Cuo schlüpften aus dem Käfig in den Schlamm, dann schlichen sie zu den Soldaten am westlichen Wachtposten hinüber. Sie schalteten die beiden Gurubashi fast lautlos aus, und die Geräusche, die dabei doch entstanden, hätte man ebenso gut für die Schritte einer Wache halten können, die ins Gebüsch stapfte, um sich zu erleichtern. Tyrathan und Vol’jin huschten zu den beiden hinüber, und jeder nahm sich einen Dolch. Die Knüppel, die die Trolle ebenfalls getragen hatten, eigneten sich derweil die Pandaren an.
Im Verlauf der nächsten fünfzehn Minuten schalteten sie nacheinander die Posten im Süden, Osten und Norden aus, wobei Vol’jin darauf verzichtete, Magie einzusetzen. In seinen Augen war keine dieser Wachen würdig, durch die Künste eines Schattenjägers zu sterben. Kurz bevor zwei Zandalari zu ihrem Rundgang aufbrachen, eilten Chen und Cuo zurück zum östlichen Wachposten, und Tyrathan zerrte die Leichen tiefer in den Sumpf, auf dass sich die Drachenschildkröten der Insel an ihnen gütlich täten. Vol’jin schlüpfte währenddessen in eine der Gurubashi-Uniformen und kauerte sich unter einer Decke zusammen.
Zur vollen Stunde näherten sich die zwei Zandalari dem nördlichen Posten. Einer von ihnen, der kleinere der beiden – der aber trotzdem noch größer war als der Schattenjäger –, verpasste Vol’jin einen Tritt in die Seite. „Steh auf, fauler Hund. Wo ist dein Kamerad?“
Vol’jin brummte und deutete in den Sumpf hinaus, und als die Zandalari sich umdrehten, um in diese Richtung zu blicken, sprang er auf und schlang einem von ihnen die Decke über den Kopf. Instinktiv hob der Krieger die Hand, um sie wegzuziehen, was Vol’jin Gelegenheit gab, ihm seinen Dolch dreimal in rascher Folge in die Eingeweide zu rammen. Beim ersten oder zweiten Hieb musste er eine Arterie getroffen haben, denn als er die Klinge zurückzog, spritzte Blut hervor, heiß und klebrig.
Der Zandalari brach zuckend vor Vol’jins Füßen zusammen.
Sein Kamerad fiel auf ihn. Er hatte Tyrathan überhaupt nicht bemerkt, bis der Mensch ihn bei den Haaren gepackt und seinen Kopf nach hinten gerissen hatte. Da der Gurubashi-Dolch nicht sonderlich scharf war, hatte der Mensch ihn wie eine Säge über der Kehle des Trolls hin- und herziehen müssen, doch zum Glück ging der erste Stich tief genug, um seine Luftröhre zu zerfetzen, sodass die Hilfeschreie des Zandalari nur als heiseres Wispern des Nachtwindes hervordrangen. Anschließend schoss Blut aus den durchtrennten Adern, und während der Troll ausblutete, kehrte wieder relative Ruhe im Sumpf ein.
Chen und Cuo, die im Gegensatz zu Mensch und Troll nicht blutüberströmt waren, tauchten wieder auf und zogen die beiden letzten Krieger in den Morast. Nachdem die Patrouille sich zu Vol’jin aufgemacht hatte, waren die Pandaren zur Stellung der Zandalari geschlichen und hatten die letzten übrigen Soldaten dort ausgeschaltet. Einem von ihnen war der Schädel eingeschlagen worden, der andere sah aus, als wäre er im Schlaf gestorben. Tyrathan nickte und zerrte sie weiter in den Sumpf, bis er außer Chens Sichtweite war, dann schnitt er ihnen die Kehlen durch, um auf Nummer sicher zu gehen. So wie die anderen Leichen vor ihnen verschwanden die beiden Toten in den Tiefen des dunklen Wassers.
Obwohl er bei dem Gestank am liebsten gewürgt hätte, behielt Vol’jin die Gurubashi-Rüstung an. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass es sinnlos wäre, wenn einer der anderen sich ebenfalls verkleidete. Nicht einmal der dümmste Troll könnte einen Menschen oder einen Pandaren für einen seiner Art halten.
Tatsache war jedoch, dass niemand sie auch nur eines Blickes würdigte. Bis zu einem gewissen Grad konnte Vol’jin es verstehen: Niemand, den die Zandalari als Feind betrachteten, wusste, wo die Insel des Donnerkönigs lag, und keiner von ihnen hatte eine Invasionsarmee, die groß genug wäre, um die Insel zu überrennen. Würde die Allianz oder die Horde angreifen, würden die Kämpfe am Hafen ihren Vorstoß lange genug verzögern, damit die anderen Truppen einen Gegenangriff organisieren konnten. Sie würden die Eindringlinge in die Sümpfe locken und sie dort dezimieren, wo ihre Kenntnis des Terrains den Trollen einen Vorteil verschaffte.
Die Wachen dösten auf ihren Posten oder marschierten ihre Route hastig ab, um möglichst schnell zu ihren Freunden zurückkehren zu können. Das machte Vol’jins Plan, die Invasion zu behindern, fast schon zu leicht. Sie hätten ihr Ziel auch erreicht, wenn sie einige Wachen hätten umbringen müssen, aber das erübrigte sich nun. Sie konnten einfach durch die Lager schleichen, wie Geister – was in Tyrathans und Vol’jins Fall ein durchaus passender Vergleich war.
Die Trolle hatten ihre Lager alle nach demselben eintönigen Muster aufgebaut: mit Standarten in der Mitte, die anzeigten, welche Einheit hier hauste, und kleineren Bannern vor den Zelten, in denen die Offiziere schliefen. Vol’jin zog von einem dieser Lager zum nächsten und tötete alle Feldwebel und Hauptmänner, die beiden wichtigsten Ränge in der Kommandostruktur jeder Armee. Die Hauptmänner interpretierten die Befehle von oben, und die Feldwebel stellten sicher, dass die gemeinen Soldaten sie auch ausführten. Ohne sie würde selbst die brillanteste Strategie im Sande verlaufen.
Vol’jin ging seiner Aufgabe kühl und effizient nach. Ein schneller Hieb im Dunkel, das Keuchen eines Trolls, dann das Geräusch, mit dem seine schlaffen Glieder auf die Schlafmatte fielen. Der Schattenjäger empfand kein Mitleid mit ihnen, sondern schickte sie bereitwillig in Bwonsamdis eisige Umarmung. Es war ihre eigene Dummheit, die sie zum Tode verurteilte – Vol’jin trieb lediglich eine Schuld ein.
Hin und wieder stellte er außerdem sicher, dass ein klar erkennbarer Fußabdruck neben einem Opfer zurückblieb.
Während sie sich zum Hafen vorarbeiteten, wurde es jedoch immer offensichtlicher, dass sie nicht genügend Offiziere töten konnten. Cuo und Chen hielten am Rand des Sumpfs Wache, vor und hinter der Stelle, wo der Troll und Tyrathan zuschlugen. Der Mensch blieb ebenfalls stets in der Nähe des Morasts, aber Vol’jin konnte sich weiter vorwagen und dort seine Opfer töten. Sie kamen nur langsam voran, und als das Morgengrauen einsetzte, verringerte jeder Dolchhieb ihre Chancen auf eine Flucht.
Vol’jin zählte seine Opfer nicht mit, aber wenn sie lediglich fünf Prozent der Offiziere getötet hatten, wäre das schon eine positive Überraschung.
Es wird den Kampf leichter mach’n, aber nicht leicht genug.
Als Vol’jin wieder zu ihnen stieß, hatte er einen Zandalari-Bogen mit zurückgebogenen Enden und einen Köcher voller Pfeile dabei. „Von einem Feldwebel. Er wird sie nicht mehr brauchen. Jetzt fühle ich mich endlich nicht mehr nackt.“
Sie schlichen nun schneller weiter und hielten dabei direkt auf den Hafen zu, bis sie schließlich die Sümpfe verließen und sich zwischen einigen niedrigen Hügeln in der Nähe der Lagerhäuser wiederfanden. Zwar waren noch immer Arbeiter damit beschäftigt, Vorräte von den Schiffen an Land oder von Land auf die Schiffe zu transportieren, doch aus dem geschäftigen Strom war inzwischen ein Rinnsal geworden. Das Lärmen von Zimmermannshämmern auf einigen Schiffen ließ Vol’jin vermuten, dass man einige Bordwände verschob, um die Kähne in Truppentransporter umzuwandeln.
Doch nicht alle. Der Troll lächelte und drehte sich zu Tyrathan herum. „Ich glaube, du wirst noch froh sein, dass du mir Jihui beigebracht hast.“
Er deutete auf ein kleines, aber robustes Fischerboot, das auf der seewärtigen Seite des Hafens auf den Strand geschoben worden war. „Chen, denkst du, dieser Kahn schafft es nach Pandaria?“
Der Braumeister nickte. „Sofern er kein Loch im Boden hat.“
„Gut. Du und Tyrathan schafft das Boot ins Wasser und rudert bis hundert Schritte hinter dieses dreimastige Schiff in der Mitte des Hafens hinaus. In einer halben Stunde. Bei Dämmerung.“
„Wird erledigt.“
Vol’jin griff nach Tyrathans Unterarm. „Sei bereit, dich von deinen Pfeil’n zu trennen! Es könnte sein, dass du schießen musst.“
„Selbstverständlich.“
„Geht!“
Der Mönch blickte ihn an, während die beiden anderen davonhuschten, und der Troll deutete auf die kleine Mole, die die Mündung des Hafens schützte. Eine einsame Wache ging an ihrem Ende auf und ab. „Ich brauche ihn lebendig, Cuo. Er muss genau da bleib’n, wo er ist, und du mit ihm. Schlag kurz nach Morgendämmerung zu!“
Der Mönch verbeugte sich. „Danke, Meister Vol’jin!“
„Los!“
Er wartete, bis der Pandaren verschwunden war, dann arbeitete er sich den Hügel hinab und auf ein Lagerhaus zu. Jetzt wünschte er sich, er hätte einem der Zandalari, die er getötet hatte, die Uniform abgenommen, denn auch wenn er einen Kopf kleiner als die meisten dieser Trolle war, hätte er dann offen über das Dock zu dem Schiff hinüberstolzieren können, das er sich ausgespäht hatte. Wäre er nur herrisch genug aufgetreten, hätte niemand ihm Fragen gestellt, und jeder hätte ihm Platz gemacht.
Mit der Verkleidung, die er jetzt trug, konnte er diese Rolle natürlich nicht spielen. Seine Uniform war bis zur Hüfte mit Schlamm und Dreck besudelt, und auf den Ärmeln verkrustete bereits das Blut. Also wählte er eine andere Rolle. Er ließ die Schultern hängen und zog das rechte Bein leicht nach, sodass es aussah, als wäre seine Hüfte einst gebrochen und nicht wieder richtig zusammengewachsen. Zu guter Letzt schob er seine Lederkappe ein Stück auf die eine Seite, dann neigte er den Kopf nach hinten und drehte ihn in die andere Richtung.
So humpelte er anschließend an den Docks entlang, hastig und zielgerichtet, wobei er den Eindruck vermittelte, dass er es nicht um seiner selbst willen so eilig hatte. Die Wache am Landungssteg schenkte ihm kaum mehr als einen Blick.
Der Zandalari-Offizier auf dem oberen Kanonendeck war da schon aufmerksamer. „Was willst du hier?“
„Mein Meister möchte eine Bilgenratte. Nicht zu fett, nicht zu dürr. Weiß, falls ich so eine find’n kann. Die weißen schmecken am besten, wisst Ihr?“
„Eine Bilgenratte? Wer ist dein Meister?“
„Wer weiß schon, was im Kopf eines Hexendoktors vor sich geht? Einmal hat er mich aus dem Schlaf geriss’n, weil er drei stumme Grillen haben wollte.“ Vol’jin zog den Kopf ein und beugte die Schultern, als würde er erwarten, dass man ihn schlug. „Die schmeck’n aber nicht, weder die leisen noch die laut’n. Ratten hingegen … Manche häut’n sie ja zuerst, aber ich nicht. Ich nehm’ einfach einen Stock und spieße sie auf, vom Maul bis zum …“