Aus diesem Grund war es auch nötig, die Rolle des Schattenjägers neu zu definieren. Ja, die Vorbereitung und die Prüfungen zu bestehen war eine gewaltige Leistung, ein Erfolg, den jeder feiern musste. Schattenjäger wurden zu Helden von geradezu mythischen Proportionen erhoben – verehrt, aber auch gefürchtet, da sie unter den Loa wandelten und daher die Nöte und Bedürfnisse der Sterblichen nie vollends verstehen konnten.

Vol’jin schauderte. Dieser Wunsch, den er verspürt hatte, der Drang, die Anerkennung der Zandalari zu gewinnen, wohnte auch den anderen Trollstämmen inne, und nicht nur ihnen. Khal’ak war ebenfalls ein Opfer dieses Wunsches, wenn auch in einem anderen Sinne. Sie wollte eine Allianz mit einem Schattenjäger eingehen, weil er einen so hohen Status genoss. Indem sie zusammenarbeiteten, hatte sie das Gefühl, dass auch sie eine höhere Stufe erklomm.

Aber dann bin ich gefloh’n und habe ihren Wunsch ruiniert.

Hin und wieder verlangsamte sich der Bilderreigen der Geschichte, wenn ein bedeutsamer Wegpunkt erreicht war. Die Szenarien waren ausladender geworden, die Trollmengen größer und die Reden hetzerischer und giftiger. Mehrere gewaltige Horden, die über das Land verteilt waren, fielen übereinander her.

In diesen Bildern konnte Vol’jin jedoch keine Schattenjäger entdecken. Und falls er doch einen erhaschte, hatte dieser sich von den Geschehnissen abgewandt. So wie ich, als Zul mich bat, den anderen Troll’n beizutreten. Oder als ich mit Garrosh brach.

Da fiel plötzlich der letzte Teil des Puzzles an seinen Platz. Die Zandalari hatten sich zum Sprachrohr der Loa erhoben, und vielleicht begannen sie irgendwann zu glauben, dass sie auf einer Stufe mit den Geistern stünden. Auf jeden Fall betrachteten sie sich nicht als Brüder der anderen Trolle. Sie waren besser. Sie waren mehr. Später versuchten die Gurubashi und Amani, den Zandalari nachzueifern, und so verfielen auch sie diesem Irrglauben, diesem Gefühl der Überlegenheit, das zu Überheblichkeit führte und all ihre Bestrebungen dem Untergang weihte.

Und jedes Mal hatte sich ein Schattenjäger abgewandt. Die Trolle interpretierten das so, dass sich ein Überbleibsel aus der Vergangenheit von der Zukunft abwandte. Aus ihrer Sicht war das die einzig logische Erklärung für dieses Handeln. Doch indem sie so dachten, lösten sie sich von ihrer Vergangenheit und ihrer wahren Natur.

Ein Schattenjäger konnte Berater oder Anführer sein, doch das war nicht seine eigentliche Aufgabe; das war nicht der Grund, warum die Loa zu ihm kamen und sich auf ihn verließen. Ein Schattenjäger war der Maßstab für alles, was einen Troll ausmachte. Alle Trolle und all ihre Taten wurden am Schattenjäger gemessen. Es war wichtig, den Unterschied zwischen echten Taten und Fähigkeiten oder Potenzial zu erkennen. Die Fähigkeiten der Schattenjäger überragten zwar die der meisten Trolle, aber dennoch konnte jeder Troll dem Schattenjäger nacheifern und das Gemeinwesen durch seine Taten stärken. Dadurch konnten sie sich gleichzeitig auch als Trolle bestätigt sehen.

Vol’jin stellte sich vor, dass er auf einer simplen Kaufmannswaage stand. Khal’ak und Vilnak’dor traten auf die andere Schale, und die Waage neigte sich zu Vol’jins Gunsten, sodass die Zandalari in die Höhe gehoben wurden. Er konnte verstehen, dass sie von ihrem erhöhten Standpunkt aus den Eindruck gewinnen konnten, dass er weniger Troll war als sie.

Dann verschwanden sie, und Chen nahm ihre Stelle ein, gefolgt von Taran Zhu und Bruder Cuo. Anschließend tauchte sein alter Freund Rexxar auf, und dann trat sogar Tyrathan auf die Waage. Bei jedem von ihnen pendelten sich die Schalen auf gleicher Höhe ein. Anders bei Garrosh; als er an die Reihe kam, schoss er nach oben wie eine Goblin-Rakete.

Vol’jin fragte sich, ob das, was er da spürte, die wahre Natur seiner Gefährten im Kloster und bei der Horde war. Natürlich waren die Pandaren und der Mensch ihm nicht ebenbürtig, immerhin war er ein Troll; aber ihre Bemühungen, Pandaria zu retten, würden den seinen in nichts nachstehen, ebenso wie ihr Streben nach Freiheit, ihre Selbstlosigkeit und ihre Opferbereitschaft seinen Gefühlen gleichkamen. Auf dieser Waage gemessen hatten auch sie das Herz und den Charakter eines Trolls.

Rexxar, der die Horde genauso liebte wie Vol’jin, verkörperte ebenfalls diese Tugenden, und der Dunkelspeer wünschte sich, sein Mok’nathal-Freund könnte jetzt hier sein. Nicht, um an seiner Seite zu sterben, sondern damit er ihnen helfen konnte, die Zandalari zu zerstören. Rexxar hätte sich freudig in diesen Kampf gestürzt, ganz gleich, wie freudlos das unausweichliche Resultat auch scheinen mochte.

Und viele andere aus der Horde hätten sich ihm angeschloss’n. Die meisten sogar, denke ich.

Die Horde, die Shado-Pan, ja selbst Tyrathan, kamen der wahren Essenz des Trollseins näher als die Zandalari. Denn die Zandalari und ihresgleichen waren wie Köter, die mit eingezogenen Schwänzen vor den Wölfen winselten. Weil sie einst selbst Wölfe gewesen waren und jetzt nicht mehr, glaubten sie, sie müssten zwangsläufig etwas Besseres sein. Ja, ihr Fell mochte nun heller schimmern, und sie konnten einige Aufgaben besser erfüllen, und vielleicht lebten sie sogar länger; aber sie hatten vergessen, dass nichts von alledem einem Wolf etwas bedeutete. Die Aufgabe eines Wolfes war es, ein Wolf zu sein. Die Hunde hatten diese Tatsache vergessen und an ihrer statt neue Wahrheiten geschmiedet, doch ganz gleich, wie überzeugend sie auch klangen, letzten Endes waren es nur Schatten der einen echten Wahrheit.

Vol’jin neigte den Kopf und blickte seinen Vater an. „Ein Troll zu sein, hat nichts mit dem Körperbau oder der Blutlinie zu tun.“

„Diese Dinge darf man nicht ganz außen vorlassen, mein Sohn, aber es ist in der Tat unser Geist, der uns zu Trollen macht. Er entscheidet, ob wir der Aufmerksamkeit der Loa würdig sind, und er ist älter als die Gestalt, die wir jetzt haben.“ Das Lächeln seines Vaters wurde breiter. „Und wie du gesehen hast, wendet der Schattenjäger sich von einem Pfad ab, wenn dieser uns von diesem Geist fortführt. Da es der Geist ist, der uns definiert, kann es Anlass zu großer Freude sein, wenn man ihn auch in anderen entdeckt.“

Vol’jin lachte. „Du hättest also nichts dageg’n, wenn ich sage, dass die Horde mehr von Trollen hat als die Zandalari?“

„Vielleicht ist dem so.“ Sein Vater schmunzelte. „Weißt du, wie wir uns nannten, bevor wir den Namen Trolle wählten?“

„Ich habe nie …“ Der Dunkelspeer runzelte die Stirn. „Ich weiß es nicht, Vater. Wie?“

„Nun, ich weiß es auch nicht, mein Sohn.“ Der Geisttroll wackelte mit dem Kopf. „Aber ich bin sicher, dass wir etwas anderes waren, bevor wir Trolle wurden, und eines Tages werden wir sicher einen neuen Namen wählen. Die Zandalari haben seit jeher versucht, zu bestimmen, was wir sind, und andere haben die Umstände ausgenutzt, um diese Vorstellungen zu bekräftigten. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass in zwanzig Millennien ein Sohn seinen Vater fragen wird: ‚Wie hießen wir eigentlich, bevor wir uns Horde nannten?‘“

„Ist es das, was du dir für die Trolle wünschst, Vater?“

Langsam schüttelte Sen’jin den Kopf. „Was ich mir für die Trolle gewünscht habe, war simpel: dass wir wieder ein Volk werden, das einem Schattenjäger folgt. Doch um das möglich zu machen, brauchen wir erst etwas Besonderes – nämlich einen Schattenjäger, der die Trolle auch führen kann. Viele Schattenjäger haben sich damit begnügt, sich von dem Pfad abzuwenden, der in den Untergang führt. Du hingegen, mein Sohn, kannst uns von diesem Untergang fortführen. Falls das bedeutet, dass du uns an einen Ort bringst, wo das Blut weniger zählt als der Inhalt des Herzens, dann soll es so sein. Dann werden wir so wieder erstarken.“

„Aber werden die Loa das akzeptier’n?“

Bwonsamdis kaltes Lachen vibrierte durch Vol’jins Brust, und er wirbelte herum, um sich dem Loa zu stellen. „Hast du deinem Vater denn nicht zugehört, Schattenjäger? Die Loa gab es schon vor den Trollen. Dein Vater wollte wissen, wie die Trolle sich nannten, bevor sie sich Trolle nannten. Ich könnte dich fragen, wie sie davor genannt wurden – oder davor. Ihr seid ein Fluss. Manche würden sagen, das bedeutet, ihr seid wie Wasser, und dass ihr irgendwann stagnieren werdet. Aber ihr seid mehr, so wie ein Fluss mehr ist als nur Wasser.“

„Und die Horde?“

Das Loa spreizte die Hände. „Fluss ist Fluss. Ob breit, ob schmal, ob seicht, ob tief, ob schnell; das ist unwichtig. Wir sind Geister, darum ist es euer Geist, der uns interessiert. Haltet euch an unser Abkommen, seid eurem Geist und euren Pflichten treu, und ihr sollt erblühen.“

„Bald wirst du jede Menge Zandalari-Seelen bekommen.“

Das Lachen des Loa hallte freudlos wider. „Meinen Hunger wirst du nie stillen können.“

„Ich selbst werde ihnen bald folgen.“

„Und ich werde dich willkommen heißen. So wie ich alle Trolle willkommen heiße.“

Vol’jin fand diese Bemerkung seltsam tröstlich; nicht, weil er das Verlangen verspürte, tot zu sein, sondern weil es bedeutete, dass er nicht von seinen Freunden getrennt sein würde. Im Angesicht des drohenden Todes war das zwar nicht viel, aber zumindest für den Moment war es genug.


30

Chen tat es leid um den kleinen Busch, hinter dem sie die Pyramide aus Felsbrocken versteckt hatten. Jeder einzelne dieser Steine – alle im Durchschnitt so groß wie ein Trollschädel, wenn natürlich auch deutlich runder – hätte gereicht, um den Busch zu zermalmen, aber alle, vereint in einer kleinen Lawine, würden den Boden aufwühlen, die Pflanze entwurzeln und mit ein wenig Glück ein halbes Dutzend Zandalari zerschmettern, die zum Kloster hochkletterten.

Chen legte seinen Felsbrocken auf die Spitze der Pyramide, dann bückte er sich und blickte den Hang hinab. Die Steine würden in einen engen Kanal hinabpoltern, dort, wo der Weg steiler wurde – und wo die feindlichen Krieger sich sammeln würden, weil sie nur einer nach dem anderen hinaufklettern konnten. Das machte diese Enge zu einem ziemlich offensichtlichen Ort für eine Falle, und auch wenn der Busch die Steine vor den meisten wachsamen Augen verbergen sollte, würden die Zandalari sie gewiss entdecken.

Und genauso wollen wir es auch. Aus der Tasche an seinem Gürtel holte der Pandaren eine Handvoll kleiner Holzscheiben hervor, die er anschließend in die Lücken zwischen den Steinen klemmte. Wenn die Felsbrocken den Hang hinunterrollten, würden die Scheiben schon bald liegen bleiben, aber die Zandalari würden sie trotzdem finden, nachdem die Lawine vorüber war.

Weiter oben am Pfad, hinter der Stelle, an der Chen stand, kniete Yalia über einem Loch im Boden. Sie musste bis ganz nach unten greifen, um den angespitzten Bambuspflock im Erdreich zu verankern, der nun zum Himmel emporragte. Chen hatte dabei geholfen, einige dieser Pfähle zu schnitzen, indem er erst das Ende zu einer scharfen Spitze gehackt und dann Einschnitte unterhalb der Kanten hinzugefügt hatte, sodass unnachgiebige Stacheln entstanden.

Er trottete den Berghang hinauf, sorgsam darauf bedacht, nicht den Pfad zu betreten. Ein Stolperdraht war quer darübergespannt, einen Fuß von Yalias kleiner Grube entfernt. Der Gedanke dahinter war, dass die Trolle gewiss einen Späher vorschicken würden, um die steile Stelle zu erkunden. Wenn er den Hang emporkletterte, würde er die Felsenbrocken entdecken, sobald er auf gleicher Höhe mit ihnen war, und dann würde er auch den Stolperdraht sehen, der nicht sonderlich gut versteckt war. Er würde annehmen, dass dadurch die Steinlawine ausgelöst wurde, und wenn er dann einen Schritt über den Draht hinwegmachte, würde er mit dem Fuß direkt in diese Grube treten. Natürlich würde er anfangen zu schreien, und selbst wenn nicht, seine Kameraden würden ihn sehen, und sie würden ihm zu Hilfe eilen.

Genau in diesem Moment würde ein kleines Katapult weiter oben am Berg beginnen, Felsen abzufeuern. Diese würden dann überall am Hang einschlagen und die Lawine auslösen, um noch mehr Trolle in den Tod zu reißen.

Chen streckte Yalia die Pfote hin. Sie warf noch einen letzten Blick auf die Kiesschicht, die sie über der Grube ausgebreitet hatte, dann nahm sie seine Hilfe an und stand auf.

Dass sie seine Pfote nicht sofort wieder losließ, freute Chen. „Das sieht gut aus, Yalia. So, wie du den Staub darüber verteilt hast, wirkt es, als wäre er schon immer da gewesen. Tyrathan wäre stolz auf diese Falle.“

Sie lächelte, aber zu hastig und zu kurz. „Aber wir legen hier keine Fallen für dumme Tiere, oder, Chen?“

„Nein, die Zandalari sind äußerst gerissen. Darum ködern wir sie auch mit den Holzscheiben. Aber keine Sorge, so, wie du alles vorbereitet hast, fallen sie sicher darauf herein.“

Sie schüttelte den Kopf. „Darüber mache ich mir keine Sorgen. Die Falle wird sie erwischen, und sie wird ihnen schaden.“

„Was ist dann …?“

„Ich habe gefragt, weil ich fragen musste.“ Yalia seufzte, zum Teil aus Erschöpfung, zum größeren Teil aber aus einem anderen Grund. „Ich ertappte mich dabei, stolz auf mein Werk hier zu sein, obwohl es anderen Schmerzen zufügen wird. Und als ich es merkte, da versuchte ich, meine Gefühle zu rechtfertigen, indem ich die Zandalari als Tiere betrachtete. Als stumpfsinnige Mordmaschinen. Ich habe sie in meinem Kopf zu etwas gemacht, das es nicht verdient hat zu leben, und mir eingeredet, dass das Urteil, das auf einen von ihnen zutrifft, über alle von ihnen gefällt werden kann. Aber sie können doch nicht alle so sein, oder?“

„Nein.“ Chen drückte ihre Pfote. „Es ist gut, dass du so denkst und mich daran erinnerst. Dass du den Wert des Lebens siehst, selbst bei deinen Feinden, ist ein Zeichen von Weisheit – und einer der Gründe, warum ich dich liebe.“

Verlegen senkte Yalia einen Moment lang den Blick. „Und dass du mir zuhörst und über das nachdenkst, was ich sage, ist einer der Gründe, warum ich dich liebe, Chen. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit. Mehr Zeit füreinander, mehr Zeit hier. Du hast so lange nach einem Zuhause gesucht, und meine Hoffnung war, dass du hier eines finden würdest. Doch jetzt musst du es schon wieder aufgeben. Das macht mich traurig.“

Er hob die Hand und wischte eine Träne aus Yalias feuchten Augen, bevor sie ihr seidenweiches Fell benetzen konnte. „Sei nicht traurig. Wenn man ein Zuhause findet, füllt das eine Leere, und dieses Gefühl ist so wundervoll, dass nicht einmal mehr Zeit es noch schöner machen könnte. Ich habe es voll ausgekostet, denn ich weiß jetzt, wer ich bin und was ich tun soll.“

„Wie das?“

„All diese Gebräue und Getränkemischungen waren mein Versuch, einen Moment oder einen Ort festzuhalten. Genauso wie ein Barde es mit einem Lied tun würde oder ein Maler mit einem Bild. Sie bedienen Ohr und Auge, während ich Nase und Zunge bediene und vielleicht noch den Tastsinn. Ich war immer auf der Suche nach dem perfekten Gebräu, in der Hoffnung, etwas zu finden, das die Leere in meinem Leben beschreiben könnte. Etwas, das diese Leere füllen würde. Aber hier, jetzt, spüre ich keine Leere mehr. Und auch wenn ich weiterhin versuchen werde, einen Ort oder eine Zeit einzufangen, habe ich nun doch Freude und Glück – und beides verdanke ich dem Umstand, dass du in mein Leben getreten bist.“