Als größter Sieg überhaupt galt es jedoch, wenn man ein Patt erspielte, in dem beide Seiten ausgeglichen waren.
Tyrathan reichte Vol’jin den roten Behälter, und jeder von ihnen schüttelte ein halbes Dutzend Würfel auf das Spielfeld, die sie dann an den äußersten Reihen des zwölf mal zwölf Felder messenden Gittermusters aufstellten. Sie drehten das Symbol mit dem niedrigsten Wert nach oben und richteten die Steine dann auf die des Gegners aus. Anschließend rüttelte jeder von ihnen noch einen weiteren Stein aus seinem Behälter, und sie verglichen das Symbol mit dem höchsten Wert. Tyrathan schlug dabei Vol’jin, er würde also den ersten Zug machen. Nachdem sie die Würfel wieder in die Behälter gelegt hatten, begann das Spiel.
Vol’jin schob einen Stein nach vorne. „Dein Pandarisch. Gut. Besser, als sie wissen.“
Der Mann zog eine Augenbraue nach oben, ohne vom Spielbrett aufzublicken. „Taran Zhu weiß es.“
Vol’jin studierte die gegnerischen Steine und beobachtete, wie der Mensch ein Flankenmanöver vorbereitete. „Du bist ihm. Auf der Fährte?“
„Er zeigt sich nur selten, und wenn, dann will er, dass man ihn sieht.“ Der Mann nagte an seinem Daumennagel. „Interessante Wahl. Wie du deinen Schützen umgedreht hast, meine ich.“
„Dein Zug. Mit dem Drachen. Auch.“ Als er den Zug gemacht hatte, hatte Tyrathan keinen Moment gezögert, aber nun, als Vol’jin ihn lobte, huschte sein Blick wieder zu dem Spielstein hinüber. Er betrachtete den Würfel angestrengt, als würde er nach etwas suchen, dann sah er auf seinen Behälter hinab.
Der Troll kam ihm jedoch zuvor. Er schüttelte einen Spielstein auf das Brett, wo er sich kurz überschlug und dann klappernd zum Stillstand kam. Das Feuerschiff. Er platzierte den Würfel neben dem Schützen und baute so seine Flanke aus. Das Gleichgewicht des Spiels verschob sich – nicht zugunsten eines Spielers, sondern von diesem Teil des Bretts fort.
Tyrathan fügte einen weiteren Stein hinzu – einen Krieger, der zwar nicht auf seiner stärksten Seite landete, aber doch stark genug war. Anschließend verstärkte er diese Flanke durch Ritter, da die sich weiter bewegen konnten. Er führte seine Züge dabei schnell durch, aber nie überhastet.
Vol’jin hob erneut den Kanister, aber da packte der Mensch seine Hand. „Nicht.“
„Lass. Mich. Los.“ Vol’jins Finger spannten sich. Eine Handbewegung, und der Behälter würde in seiner Hand zerbrechen und Spielsteine und Splitter würden in alle Richtungen davonfliegen. Er wollte den Mann anbrüllen, ihn fragen, wie er es wagen konnte, einen Schattenjäger anzufassen, noch dazu den Anführer der Dunkelspeertrolle. Weißt du denn nicht, wer ich bin?
Doch nichts davon geschah. Seine Hand konnte sich nicht weiter anspannen, und um die Wahrheit zu sagen, hatte bereits diese kurze Anstrengung seine Muskeln erschöpft. Sein Griff wurde schwächer, und jetzt war es nur noch die Hand des Mannes, die verhinderte, dass der Behälter auf das Spielbrett fiel.
Tyrathan öffnete die andere Hand, um zu zeigen, dass er keine bösen Absichten verfolgte. „Ich soll dir dieses Spiel beibringen. Du brauchst keinen weiteren Stein. Würde ich zulassen, dass du dir einen nimmst, würde ich gewinnen, und dein Zug würde den Wert meines Sieges steigern.“
Vol’jins Blick wanderte über die Würfel. Auf eine stärkere Seite gedreht könnte der schwarze Krieger seinen Kriegsherrn besiegen, dann müsste er sein Feuerschiff zurückziehen, um auf diese Bedrohung zu reagieren. Doch dadurch würde dieser Spielstein in Reichweite von Tyrathans Drachen kommen. Dann würden beide Steine zerstört, und der Krieger und die Ritter könnten seine rechte Flanke auseinandernehmen. Selbst wenn er die beste Figur aus dem Behälter schüttelte, könnte er das Spiel nicht mehr retten. Falls er seine rechte Flanke verstärkte, würde der Mensch seinen Angriff auf die linke Seite verlagern, und wenn er die linke verstärkte, würde er seine rechte Flanke verlieren.
Vol’jin ließ den Behälter in Tyrathans Hand fallen. „Danke! Für meine Ehre.“
Der Mensch stellte den Behälter auf dem Tisch ab. „Ich weiß, was du vorhattest. So hätte ich zwar gewonnen, aber es wäre ein Sieg gegen einen Schüler gewesen. Und da es falsch ist zuzulassen, dass ein Schüler einen fatalen Fehler begeht, hätte ich letzten Endes trotzdem verloren. So wie ich auch jetzt verliere, weil du mich gezwungen hast, auf deine Laune zu reagieren.“
Sollte es denn nicht so sein, Mensch? Vol’jin kniff die Augen zusammen. „Du gewinnst. Du hast mich. Durchschaut. Ich verliere.“
Tyrathan schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. „Dann verlieren wir beide. Und nein, hier geht es nicht nur um dieses Spiel. Sie beobachten uns. Ich studiere dich. Du studierst mich. Sie studieren uns beide. Sie studieren, wie wir das Spiel gespielt haben, wie wir uns gegenseitig studiert haben. Und Taran Zhu studiert alles, auch die, die uns studieren.“
Ein Schauder rann über Vol’jins Wirbelsäule. Er nickte kurz, in der Hoffnung, dass niemand sonst es bemerkte, aber Taran Zhu würde es natürlich nicht entgehen. Es war gerade deutlich genug, dass der Mensch es sah, und für einen Moment waren die beiden Außenseiter vereint.
Tyrathans Stimme wurde leiser, als er die Spielsteine in die Behälter zurückfallen ließ. „Die Pandaren sind an die Nebel gewöhnt. Sie sehen durch den Dunst hindurch, und sie selbst sind darin unsichtbar. Entfesselt würden sie einen furchterregenden Gegner abgeben, wären sie nicht so ausgeglichen und so besessen von dieser Balance. Sie finden Frieden darin, und sie weigern sich, ihren Frieden einfach so aufzugeben – aus gutem Grund.“
„Sie beobachten. Wollen sehen. Wie wir uns ausgleichen.“
„Sie hätten gerne, dass wir ein Gleichgewicht bilden.“ Tyrathan schüttelte den Kopf. „Andererseits, vielleicht will Taran Zhu auch wissen, wie er uns so aus dem Gleichgewicht bringen kann, dass wir einander zerstören. Und ich fürchte, es wird ihm nicht allzu schwerfallen, das herauszufinden.“
In dieser Nacht verspotteten Visionen Vol’jin. Er fand sich inmitten von kämpfenden Kriegern wieder, die er alle erkannte. Er hatte sie einst um sich geschart, um dem Wahnsinn von Zalazane in einem finalen Angriff ein Ende zu bereiten und die Echo-Inseln für die Dunkelspeertrolle zu befreien. Jeder der Kämpfer nahm die Gestalt eines Jihui-Würfels an, mit der stärksten Seite nach oben. Es war kein Feuerschiff unter ihnen, aber das überraschte Vol’jin auch nicht.
Er war das Feuerschiff, so gedreht, dass er seine maximale Macht entfalten konnte. Doch so verzweifelt der Kampf auch war, er würde sich in dieser Schlacht nicht selbst zerstören. Mit der Unterstützung von Bwonsamdi würden sie Zalazane vernichten und die Echo-Inseln zurückfordern.
Wer ist dieser Troll, der Erinnerungen an einen heldenhaften Kampf hat?
Vol’jin wirbelte herum, und dabei hörte er das Klacken eines Spielsteins, der sich in eine neue Richtung drehte. Er selbst war in diesem Würfel gefangen, wenngleich er durchsichtig schien, und erschrocken stellte er fest, dass sich auf keiner Seite Wertanzeigen befanden. „Ich bin Vol’jin.“
Bwonsamdi materialisierte in einer grauen Welt wirbelnder Nebel. „Und wer ist dieser Vol’jin?“
Die Frage erschütterte ihn. Der Vol’jin in seiner Vision war der Anführer der Dunkelspeere gewesen, aber jetzt war er das nicht mehr. Die Meldungen über seinen Tod erreichten die Horde vielleicht gerade in diesem Moment. Vielleicht ließen sie auch noch auf sich warten. In seinem Herzen hoffte der Troll, dass seine Verbündeten aufgehalten worden waren, sodass Garrosh noch einen weiteren Tag darum bangen musste, ob sein Plan aufgegangen war.
Das beantwortete aber nicht die Frage. Er war nicht länger der Anführer der Dunkelspeere, nicht wirklich jedenfalls. Unter Umständen erkannten sie ihn noch an, aber er konnte ihnen keine Befehle mehr erteilen. Sie würden sich Garrosh widersetzen und jedem Versuch, sie zu unterwerfen; aber in seiner Abwesenheit würden sie vielleicht auf die Angebote von Abgesandten eingehen, die ihnen Schutz versprachen. Womöglich konnte er nie wieder zu ihnen zurück.
Wer bin ich?
Vol’jin erschauderte. Obwohl er sich Tyrathan Khort überlegen fühlte, konnte der Mensch doch zumindest gehen, und er musste keine Krankengewänder tragen. Er war zudem nicht gerade von einem Rivalen betrogen und in einen Hinterhalt gelockt worden. Und obendrein hatte er offensichtlich einen Teil der Pandaren-Philosophie angenommen.
Dennoch zögerte Tyrathan, auch wenn er eigentlich keinen Grund dazu hatte. Ein Stück weit war das natürlich nur gespielt, damit die Pandaren ihn unterschätzten, doch Vol’jin hatte das durchschaut. In anderen Fällen, etwa als Vol’jin ihm zu seinem Zug gratuliert hatte, hatte er aber wirklich gezögert, und das war nichts, was dieser Mann sich bereitwillig gestatten würde.
Der Troll blickte zu Bwonsamdi auf. „Ich bin Vol’jin. Ich weiß, wer ich war. Und wer ich sein werde? Die Antwort darauf kann nur Vol’jin finden. Für den Moment, Bwonsamdi, muss das reichen.“
Vol’jin war vielleicht noch nicht ganz sicher, wer er war, aber er wusste genau, wer er nicht war. Stück für Stück zwang er sich von seinem Krankenbett hoch. Er schlug die Decke zurück, wobei er sie gründlich faltete, obwohl er sie doch eigentlich nur von sich schleudern wollte, und schwang dann die Beine über die Bettkante.
Als seine Füße den kalten Boden zum ersten Mal berührten, überraschte ihn das Gefühl, aber er zog auch Stärke daraus. Es überdeckte die Schmerzen in seinen Beinen und das Zerren der straffen Narben und Nähte. Auf den Bettpfosten gestützt, versuchte er sich aufzurichten.
Beim sechsten Versuch schaffte er es schließlich. Zuvor, beim vierten Anlauf, waren die Nähte an seinem Bauch aufgeplatzt, doch er weigerte sich, diese Tatsache anzuerkennen, und so hatte er die Mönche fortgescheucht, die durch den dunklen Fleck auf seiner Tunika angelockt wurden. Zunächst hatte er vorgehabt, sich bei Tyrathan für die zusätzliche Arbeit zu entschuldigen, die er ihm aufbürdete, aber dann bat er die Mönche stattdessen, die Tunika beiseitezulegen.
Das tat er, nachdem er sich wieder hingelegt hatte. Er hatte sich aufgerichtet und eine gefühlte Ewigkeit auf seinen Füßen gestanden. Wie viel Zeit wirklich vergangen war, hatte ihm das Sonnenlicht gezeigt, das durch das Fenster schien. Es hatte sich zwar nicht mal um eine Käferbreite über den Boden bewegt, aber immerhin: Er hatte aufrecht gestanden. Das war ein Sieg.
Nachdem die Mönche die Wunde wieder genäht und neu verbunden hatten, bat Vol’jin um einen Kessel mit Wasser und eine Bürste. Damit schrubbte er das Blut aus der Tunika, so gut es ihm eben möglich war. Der Fleck erwies sich als hartnäckig, und die Anstrengung ließ seine Muskeln brennen, dennoch war der Troll fest entschlossen, den Stoff rein zu waschen.
Tyrathan wartete, bis Vol’jins Bewegungen langsamer wurden und das Wasser sich wieder glättete, dann nahm er ihm die Tunika ab. „Es ist äußerst gütig von dir, Vol’jin, dass du meine Bürde erleichtern willst. Ich werde das jetzt zum Trocknen aufhängen.“
Am liebsten hätte der Troll protestiert, konnte er doch noch immer den dunklen Umriss erkennen, aber er blieb stumm, denn in diesem Augenblick sah er das Gleichgewicht von Huojin und Tushui wiederhergestellt. Er war impulsiv gewesen, und Tyrathan hatte bedachtsam gehandelt und zur rechten Zeit eingegriffen, auf eine Weise, die keinem von ihnen die Ehre kostete. Ohne es auszusprechen, hatte er Vol’jins Mühe und Absicht gewürdigt und so das beabsichtigte Ziel erreicht, ohne jeden Egoismus und ohne auf einen Sieg zu schielen.
Am nächsten Tag schaffte der Troll es schon beim dritten Versuch auf die Beine. Er blieb so lange stehen, bis der Rand des Sonnenlichts um eine Daumenbreite an der Fuge zwischen den Bodenplatten vorbeigewandert war. Und am darauffolgenden Tag schaffte er es in derselben Zeitspanne, von einem Ende des Bettes zum anderen und wieder zurück zu gehen. Am Ende der Woche schlurfte er schon bis zum Fenster und blickte hinaus in den Hof.
In der Mitte des Platzes standen Pandaren-Mönche in geraden Linien und exerzierten ihre Übungen durch, wobei sie mit rasender Geschwindigkeit in die Luft hieben. Der Kampf ohne Waffen war für Trolle nichts Neues, aber da sie von Natur aus schlaksiger waren, kamen ihre Techniken nicht an die Disziplin und Selbstkontrolle heran, die die Mönche hier an den Tag legten. An mehreren Stellen am Rand des Hofs kämpften weitere Pandaren mit Schwertern und Speeren, Stangenwaffen und Bögen. So wie sie zuschlugen, hätte ein einziger Hieb mit nichts weiter als einem Stock gereicht, um einen ganz in Stahl gekleideten Recken aus Sturmwind in die Schranken zu weisen. Hätte sich nicht das Sonnenlicht auf den rasiermesserscharfen Klingen gespiegelt, hätte vermutlich nicht einmal er selbst den verschwommenen Bewegungen der Waffen folgen können.
Und dort drüben, auf der Treppe, fegte Chen Sturmbräu Schnee. Zwei Stufen über ihm tat Meister Taran Zhu dasselbe.
Vol’jin lehnte sich an den Rahmen des Fensters. Wie hoch is’ wohl die Wahrscheinlichkeit, dass ich den Leiter des Klosters bei niederen Arbeit’n sehen würde? Doch dann fiel ihm ein, dass er ein wenig ein Gewohnheitstier geworden war und immer zur selben Zeit aufstand. Das wird sich jetzt ändern.
Das bedeutete, dass Taran Zhu wusste, was sein Gast getrieben hatte, und dass er genau vorausberechnet hatte, wann der Troll das Fenster erreichen würde. Doch das war nicht alles. Vol’jin war sicher, falls er Chen fragte, wie oft Taran Zhu hier Schnee fegte, würde er erfahren, dass der alte Pandaren es nur heute, nur dieses eine Mal getan hatte. Der Troll blickte zur Seite und sah einige Mönche, die ihn ignorierten – was bedeutete, dass sie seine Reaktion beobachteten, dabei aber nicht auffallen wollten.
Keine fünf Minuten nachdem er sich wieder hingelegt hatte, kam Chen, um ihn zu besuchen, in der Hand eine kleine Schale mit dampfender Flüssigkeit. „Es war schön, dich wieder auf den Beinen zu sehen, mein Freund. Ich wollte dir das hier schon seit Tagen bringen, aber Meister Taran Zhu hat es verboten. Er dachte, es wäre zu stark für dich. Ich habe ihm erklärt, dass schon etwas viel Stärkeres nötig wäre, um dich umzubringen. Ich meine, du hast sogar diesen Hinterhalt überlebt, richtig? Also darfst du jetzt als Erster probieren. Als Erster nach mir jedenfalls.“ Chen lächelte. „Ich musste schließlich sichergehen, dass es dich nicht doch umbringen würde.“
„Wie freundlich.“
Vol’jin hob die Schale und schnüffelte: Das Gebräu hatte einen intensiven Geruch, ein wenig wie Holz. Als er daran nippte, war es weder süß noch bitter, aber doch voll und reich in seiner Würze. Es schmeckte so, wie der Dschungel nach einem Regenguss roch, wenn der Dampf von den Pflanzen aufstieg und alles zusammenbrachte. Als er erkannte, dass das Getränk ihn an die Echo-Inseln erinnerte, zog sich ihm fast die Kehle zusammen.