Obwohl es ihn eine gewaltige Kraftanstrengung kostete, zog Vol’jin die Augenbraue hoch.

„Nun …“ Chen blickte über die Schulter zu einem leeren Bett hinüber. „Ungefähr einen Monat, bevor ich dich fand, da stieß ich bei einer Wanderung auf einen Menschen. Er war schwer verletzt, sein Bein kompliziert gebrochen, also brachte ich ihn ebenfalls hierher. Er ist schon ein wenig weiter genesen als du, aber Trolle heilen ja schneller. Die Sache ist: Taran Zhu will, dass er sich um dich kümmert.“

Ein Blitz explodierte in Vol’jins Geist, aber so schwach, wie er war, konnte der Schock seinem Körper nicht einmal ein Zucken entlocken. „Nein!“

Chen streckte beide Pfoten aus und drückte den Troll wieder nach unten. „Nein, nein, du verstehst nicht. Für ihn gelten hier dieselben Einschränkungen wie für dich. Er wird dich nicht … Ich weiß, du hast keine Angst vor Menschen, Vol’jin. Meister Taran Zhu hofft, dass dieser Mann sich selbst heilen wird, indem er dir hilft, wieder gesund zu werden. Das gehört zum Weg der Pandaren, mein Freund. Indem man das Gleichgewicht wiederherstellt, fördert man die Heilung.“

Obwohl die Berührung von Chens Pfoten weich und nur von sanfter Kraft war, konnte Vol’jin sich nicht dagegen wehren. Einen Herzschlag lang kam ihm der Gedanke, dass die Mönche ihm ganz bewusst einen Trunk eingeflößt haben könnten, der ihn so schwach machte. Doch dann hätte Chen Teil dieser List sein müssen, und der Pandare hätte sich niemals zu so etwas bereit erklärt.

Der Troll verdrängte seinen Zorn, und seine Frustration gleich mit. Meister Taran Zhu wollte ihn also nicht nur studieren, sondern auch sehen, wie er mit einem Menschen zurechtkam. Vol’jin hätte ihm eine lange Geschichte über die Beziehungen zwischen Menschen und Trollen erzählen können, die aufzeigte, warum sie einander so hassten. Er hatte mehr Menschen getötet, als er sich noch erinnern wollte, doch keiner von ihnen hatte ihm schlaflose Nächte bereitet; im Gegenteil, ihre Tode ließen ihn noch besser schlafen. Und er war sicher, dass es dem Mann hier im Kloster ebenso ging.

Da erkannte er, auch wenn Taran Zhu sich all diese Geschichten anhören würde, wären sie doch durch die Natur des Erzählers verzerrt. Indem er einen Troll und einen Menschen zusammensteckte, konnte er sie beobachten, lernen und seine eigenen Rückschlüsse ziehen.

Nicht die dümmste Methode, muss ich zugeben. Vol’jin rief sich ins Gedächtnis, dass er für Meister Taran Zhu nichts weiter als ein Troll war, ganz gleich, wie viel Chen dem Mönch über ihn erzählt hatte. Die Vergangenheit des Menschen interessierte ihn vermutlich ebenso wenig. Wer sie waren, hatte schließlich keinerlei Einfluss darauf, wie sie aufeinander reagierten, und das war die Information, um die es dem Pandaren ging. Dass er das wusste und dass er die Information in diesem Wissen manipulieren konnte, gab Vol’jin eine gewisse Macht.

Er blickte zu Chen auf. „Du. Findest. Gut?“

Überraschung weitete die Augen des Braumeisters, dann lächelte er. „Es ist das Beste, für dich und für ihn, für Tyrathan. Die Nebel haben Pandaria lange Zeit verborgen. Du und er, ihr teilt ein gemeinsames Band, wie ein Pandaren es nie zu euch aufbauen könnte. Gemeinsam werdet ihr schneller gesund.“

„Wozu? Damit. Später. Töten.“

Chens Brauen wanderten nach unten. „Vermutlich. Er ist ebenso unglücklich über diese Sache wie du, aber er wird sich an die Regeln halten, um hierbleiben zu dürfen.“

Vol’jin legte den Kopf schräg. „Name?“

„Tyrathan Khort. Du wirst ihn nicht kennen. Er ist in der Allianz nicht so hoch aufgestiegen wie du in der Horde. Aber er war ein wichtiger Mann, ein Anführer unter den Allianztruppen hier. Und seine Wunden stammen nicht von den Attentätern seines eigenen Königs. Er wurde in einer Schlacht verletzt, die Pandaria geholfen hat, das ist alles, was ich weiß. Darum hat Meister Taran Zhu auch zugestimmt, ihn hier zu pflegen. Er trägt eine tiefe Trauer in sich, die sich durch nichts heilen lassen will.“

„Nicht. Mal. Durch. Bier?“

Der Pandaren schüttelte den Kopf, und seine Augen schweiften in die Ferne. „Er trinkt, und er verträgt einiges. Aber der Alkohol macht ihn nicht ausgelassen. Er bleibt stets grüblerisch und still. Eine weitere Eigenschaft, die ihr beide teilt?“

„Tushui, ja?“

Chen warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus. „Sie haben deinen Körper auseinandergenommen, aber deinen Geist konnten sie nicht verletzen. Ja, das wäre Tushui, und wenn das alles wäre, gäbe es kein Gleichgewicht. Aber seitdem er wieder in der Lage ist, mit Krücken zu stehen, zieht er jeden Tag los, um auf den Berg zu klettern. Das ist äußerst Huojin. Und dann bleibt er stehen, nach einhundert Schritten, zweihundert Schritten, und kehrt völlig erschöpft wieder zurück. Nicht körperlich erschöpft, aber im Geiste. Sehr, sehr Huojin.“

Merkwürdig. Ich frage mich, warum … Vol’jin rief sich zur Ordnung und nickte Chen unmerklich zu. „Na. Schön. Freund.“

„Vielleicht findest du ja die Antwort.“

Was bedeutet, ich muss mit ihm auskomm’n und genau das sein, was alle hier woll’n. Langsam atmete er aus und bettete seinen Kopf auf das Kissen. Und im Moment zähle ich sogar mich selbst zu dieser Gruppe.


5

Die Mönche verlangten nicht, dass Vol’jin sich von dem Menschen pflegen ließ, und der Troll hätte das auch nicht toleriert. Also waren es die Pandaren, die ihn weiter wuschen, seine Wunden verbanden, sein Bettzeug wechselten und ihn fütterten. Dabei waren sie bestimmt und gründlich, und Vol’jin konnte keine Bosheit in ihnen entdecken. Was ihm aber auffiel, war, dass jeder Pandaren der Gruppe sich einen ganzen Tag lang um ihn kümmerte, dann die nächsten zwei Tage fortblieb, bevor er wieder zurückkehrte und sich erneut um seine Pflege kümmerte. Nachdem sie drei volle Tage mit ihm verbracht hatten, begann ein neuer Turnus, und er sah sie nie wieder.

Nur hin und wieder erhaschte er einen Blick auf Taran Zhu, aber er war sicher, dass der alte Mönch ihn weit öfter beobachtete, als er registrierte, und dass er es überhaupt nur registrierte, wenn Taran Zhu gesehen werden wollte. Vol’jin bekam den Eindruck, dass die Einwohner von Pandaria genauso waren wie ihre Welt – umgeben von einem Nebel, den man nur kurz durchdringen konnte. Chen hatte zwar auch einige solche Charakterzüge, aber verglichen mit der schwer fassbaren Komplexität der Mönche war er wie ein klarer, sonniger Tag.

So verbrachte Vol’jin einen Großteil seiner Zeit damit, zu beobachten und darüber nachzudenken, wie viel von sich selbst er preisgeben sollte. Sein Hals heilte zwar, aber wegen des Narbengewebes blieb das Sprechen auch weiterhin eine ziemlich schmerzhafte Angelegenheit. Den Pandaren mochte es nicht aufgefallen sein, aber die Sprache der Trolle hatte stets einen melodiösen Fluss – und nun hatten die Narben ihm diesen Fluss gestohlen. Falls die Fähigkeit zu sprechen ein Zeichen des Lebens ist, dann haben die Attentäter mich vielleicht wirklich ermordet. Er hoffte, dass die Loa – die während der Zeit seiner Heilung schweigend im Hintergrund geblieben waren – seine Stimme überhaupt noch erkennen würden.

Es gelang ihm, einige Worte der Pandaren-Sprache aufzuschnappen. Die Tatsache, dass dieses Volk für so ziemlich alles sechs verschiedene Namen hatte, erlaubte es ihm, sich den Begriff herauszupicken, der ihm beim Aussprechen die wenigsten Schmerzen bereitete. Dass die Pandaren so viele Worte hatten, machte es zugleich aber auch schwieriger, sie alle zu kennen. Ihre Sprache verfügte über Nuancen, die ein Außenstehender niemals verstehen würde, und die Pandaren konnten das ausnutzen, um ihre wahren Absichten zu maskieren.

Vol’jin wünschte sich, er könnte seine körperliche Schwäche überspielen, wann immer er dem Menschen begegnete, aber das hätte wohl keinen großen Unterschied gemacht. Obwohl er nach den Standards seines Volkes hochgewachsen war, fehlten Tyrathan die Muskeln und die Masse eines Menschenkriegers. Seine schlanke Gestalt, die leichten Narben an seinem linken Unterarm und die Schwielen an den Fingern seiner rechten Hand wiesen ihn als Jäger aus. Sein weißes Haar trug er kurz und ungebunden, außerdem hatte er einen ebenfalls weißen Schnurr- und Kinnbart, den er aber erst seit Kurzem sprießen ließ. Gekleidet war er in die schlichten Gewänder eines Novizen – handgesponnen und braun und viel zu weit, weil sie für einen Pandaren gedacht waren. Wirklich groß waren sie aber nicht, weshalb Vol’jin vermutete, dass es die Kleider eines weiblichen Pandaren waren.

Die Mönche verlangten zwar nicht, dass der Mann Vol’jin pflegte, sehr wohl aber, dass er die Kleider und Laken des Trolls wusch. Der Mensch kam diesen Aufgaben ohne Kommentar oder Klage nach, und er war sehr gründlich. Die Sachen kamen makellos zurück, und manchmal rochen sie nach medizinischen Kräutern und Blumen.

Dennoch war der Mann gefährlich, das verrieten Vol’jin zweierlei Dinge. Den meisten anderen hätte wohl schon gereicht, was der Troll längst entdeckt hatte – die Schwielen und die Tatsache, dass der Mensch ohne allzu viele Narben überlebt hatte –, um zu diesem Schluss zu gelangen. Doch für Vol’jin waren es zum einen die huschenden grünen Augen des Mannes, die Art, wie er bei Geräuschen den Kopf drehte, und die winzige Pause, die er machte, bevor er selbst die einfachsten Fragen beantwortete; all das zeigte, dass der Mensch unglaublich aufmerksam war. Natürlich war diese Eigenschaft unter Jägern keine Seltenheit, aber so deutlich trat sie nur bei den Besten dieses Faches zutage.

Die zweite Sache war die Geduld, die der Mensch zeigte. Bis Vol’jin erkannte, dass seine Versuche fruchtlos bleiben würden, machte er immer wieder einfache Fehler, durch die dem Mann mehr Arbeit aufgebürdet wurde. So ließ er etwa den Löffel fallen, sodass das Essen seine Kleider beschmutzte, doch die Flecken störten den Menschen nicht. Einmal hatte Vol’jin einen solchen Fleck sogar verborgen, damit er eintrocknete, aber selbst da hatte er die Robe makellos sauber zurückerhalten.

Diese Geduld zeigte sich auch darin, wie der Mann mit seinen eigenen Wunden umging. Obwohl seine Kleidung die Narben verbarg, bewegte er sich mit einem Humpeln – seine linke Hüfte war steif. Jeder Schritt musste unglaublich schmerzhaft sein, und hin und wieder konnte er sich eine Grimasse nicht verkneifen, aber seine Bemühungen, sie zu unterdrücken, hätten selbst Taran Zhu alle Ehre gemacht. Und trotzdem zog er jeden Tag los, sobald die Sonne langsam hinter dem Horizont hervorkroch, und folgte dem Pfad zum Gipfel des Berges über ihnen.

Nachdem man ihn gefüttert hatte, kam der Mensch zu ihm herüber, Vol’jin setzte sich auf und nickte ihm zu. Tyrathan hatte ein Spiel dabei – bestehend aus einem flachen, mit einem Gittermuster überzogenen Spielbrett und zwei zylindrischen Behältern, einer rot, einer schwarz, jeder mit einem runden Loch in der Mitte des Deckels. Der Mensch legte alles auf den Beistelltisch, dann zog er sich einen Stuhl von der Wand heran und nahm Platz.

„Bist du bereit für eine Runde Jihui?“

Vol’jin nickte. Obwohl sie beide den Namen des jeweils anderen kannten, benutzten sie ihn nie. Sowohl Chen als auch Taran Zhu hatten ihm erklärt, dass dieser Mann Tyrathan Khort war, und der Troll ging davon aus, dass der Mensch ebenfalls über seine Identität informiert worden war. Falls der Kerl einen Groll gegen ihn hegte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Aber er muss wissen, wer ich bin.

Tyrathan nahm den schwarzen Zylinder, schraubte den Deckel ab und leerte den Inhalt auf das Spielbrett: Vierundzwanzig Würfel klapperten und tanzten über die glatte Bambusoberfläche. Jeder davon war mit roten Symbolen vor einem schwarzen Hintergrund beschriftet, einschließlich Punkten, die die Anzahl von Zügen bestimmten, und Pfeilen, um festzulegen, welche Seite vorne war. Der Mensch teilte sie in vier Gruppen zu jeweils sechs Spielsteinen ein, um zu belegen, dass es wirklich vierundzwanzig waren, dann begann er sie mit der Hand in den Behälter zurückzuschieben.

Vol’jin tippte einen der Würfel an. „Dieses Zeichen.“

Der Mensch nickte, dann wandte er sich um und rief in stockendem Pandarisch einen der Mönche herbei. Die beiden unterhielten sich kurz – der Mann zögerlich, der Mönch so betont, als würde er mit einem Kind reden. Schließlich beugte Tyrathan zackig den Kopf und bedankte sich.

Anschließend drehte er sich wieder zu Vol’jin herum. „Dieser Stein ist das Schiff. Das Symbol auf der Oberseite ist das Feuerschiff.“ Er drehte den Spielstein, sodass der Troll die pandarische Glyphe richtig herum sehen konnte, dann wiederholte er das Wort Feuerschiff in perfektem Zandali.

Dabei huschten seine Augen gerade lange genug hoch, um Vol’jins Reaktion zu erhaschen.

„Dein Akzent. Schlingendorntal.“

Der Mann ignorierte seine Worte und deutete auf den Würfel. „Das Feuerschiff ist für die Pandaren ein sehr wichtiger Spielstein. Er kann alles zerstören, wird dabei aber selbst zerstört. Er wird dann vom Feld genommen. Wie man mir sagte, verbrennen einige Spieler diesen Stein. Von den sechs Schiffen in deiner Flotte kann nur eines ein Feuerschiff werden.“

„Danke!“

Jihui vereinigte in sich viele Aspekte der Pandaren-Philosophie. Jeder Spielstein hatte sechs Seiten, und ein Spieler konnte ihn mit dem anfangs nach oben gerichteten Symbol bewegen und damit angreifen oder den Würfel zur Seite drehen und dann mit dem neuen Symbol entweder einen Zug machen oder angreifen. Es war außerdem erlaubt, einen Würfel aufzunehmen und ihn über das Feld rollen zu lassen, um so willkürlich eine neue Seite zu wählen. Das war auch die einzige Möglichkeit, das Feuerschiff-Symbol auf einem Schiffsspielstein oben erscheinen zu lassen.

Noch interessanter war jedoch, dass ein Spieler entscheiden konnte, gar keinen Zug zu machen, sondern stattdessen einen neuen Würfel aus dem Behälter zu nehmen. Dazu wurde dieser geschüttelt und dann auf den Kopf gestellt; der erste Stein, der herausfiel, wurde ins Spiel aufgenommen. Fielen zwei Steine auf das Brett, wurde der zweite wieder aus dem Spiel entfernt, und der Gegner durfte dafür ohne Strafe einen beliebigen Stein aus seinem eigenen Behälter wählen.

All das machte Jihui zu einem Spiel, das genaues Überlegen belohnte, zugleich aber auch impulsive Elemente beinhaltete. Es schuf ein Gleichgewicht zwischen Bedachtsamkeit und Zufall, auch wenn der Zufall bisweilen Strafen mit sich brachte. Wenn man gegen einen Spieler verlor, der mehr Steine auf dem Spielfeld besaß, wurde das nicht als große Niederlage angesehen, und wenn man sich in einer unterlegenen Position ergab, galt das nicht als ehrlose Kapitulation. Obwohl das Ziel des Spiels darin bestand, alle Würfel des Gegners auszuschalten, galt es als unhöflich, ja sogar als barbarisch, bis zu diesem Punkt weiterzuspielen. Für gewöhnlich fand sich einer der Spieler früher oder später in einer ausweglosen Situation wieder und gab auf; manche verließen sich dann aber auch auf ihr Glück und setzten alles auf eine Karte, um doch noch den Sieg davonzutragen.