Chen lächelte schief. „Klar tue ich das. Und möchtest du wissen, warum ich dich nicht darum gebeten habe, dein Wanderleben aufzugeben und mit mir in der Brauerei zu arbeiten?“

Ihr Antlitz hellte sich auf. „Ja, das möchte ich wissen.“

„Das liegt daran, meine verehrte Nichte, dass ich einen Partner brauche, der weiterhin dem Abenteuer frönt. Wer sonst sollte mir durotarianisches Moos aus den tiefsten Höhlen beschaffen, wenn ich welches brauche? Und noch dazu zu einem vernünftigen Preis? Die Brauerei bedeutet, dass ich Verantwortung habe. Ich kann nicht mehr Monate oder gar Jahre am Stück fortgehen. Deshalb brauche ich jemanden, dem ich vertrauen kann – jemanden, der eines Tages zurückkommen kann, um mein Werk fortzuführen.“

„Aber ich habe nicht das Zeug zu einem Braumeister wie du.“

Chen tat diesen Einwand mit einem Wink ab. „Hier sesshafte Braumeister kann ich anheuern. Aber bloß ein Sturmbräu kann die Brauerei führen. Allerdings könnte ich ebenso gut auch einen schnittigen Braumeister engagieren, den du dann heiratest und …“

„… und meine Kinder erben dann alles?“ Li Li schüttelte den Kopf. „Ich bin sicher, dass du das nächste Mal, wenn wir uns treffen, selbst einen Haufen Kinder hast.“

„Aber ich werde mich trotzdem immer freuen, dich zu sehen, Li Li. Immer.“

Chen vermutete, dass Li Li ihn umarmen und drücken wollte, was er nur zu gern zugelassen hätte, wären da nicht zwei Dinge gewesen, die ihn daran hinderten. Zum einen sahen die Schwestern zu, und Zurschaustellungen von Gefühl würden dafür sorgen, dass sie sich unbehaglich fühlten. Wichtiger noch aber war, dass Keng-na heulend und mit weit aufgerissenen Augen durch ihren Gemüsegarten gestürmt kam.

„Meister Chen, Meister Chen, da ist ein Monster im Fluss! Ein riesiges Monster! Es ist blau und hat rotes Haar und ist übel zugerichtet. Es klammert sich ans Ufer. Es hat Krallen!“

„Li Li, sammle die Kinder ein! Halte sie von der Zisterne fern! Komm mir nicht nach!“

Sie sah ihn an. „Aber was, wenn …?“

„Wenn ich deine Hilfe brauche, rufe ich dich. Jetzt geh, schnell!“ Er warf den Schwestern einen raschen Blick zu. „Sieht so aus, als bekämen wir ein Unwetter. Ihr solltet vielleicht besser hineingehen. Und die Tür verriegeln.“

Sie starrten ihn einen Moment lang trotzig an, sagten jedoch kein Wort. Er eilte davon, lief quer durch den Garten und orientierte sich an dem Holzeimer, den Keng-na stehen gelassen hatte. Der Spur platt getretenen Unkrauts zum Flussufer zu folgen, die der Junge im Unterholz hinterlassen hatte, war nicht allzu schwierig, und Chen war schon halb die Böschung hinunter, als er das Monster sah.

Und es sofort als das erkannte, was es war. Ein Troll!

Keng-na hatte recht. Der Troll hatte einiges abbekommen. Seine Kleidung hing in Fetzen, und das Fleisch darunter war in nicht minder schlechter Verfassung. Der Troll hatte sich halb aus dem Fluss geschleppt; seine Klauen und ein in den Uferschlamm gebohrter Stoßzahn waren das Einzige, das ihm Halt gab.

Chen ließ sich auf ein Knie fallen und drehte den Troll auf den Rücken.

„Vol’jin!“

Chen starrte ihn an und das, was von seiner Kehle noch übrig war. Wäre der rasselnde Atem nicht gewesen, der durch das Loch in seinem Hals pfiff, und die blutrote Flüssigkeit, die aus seinen Wunden sickerte, wäre der Pandaren überzeugt gewesen, sein alter Freund sei tot. Und wahrscheinlich starb er ohnehin noch.

Chen packte Vol’jins Arme und zog ihn aus dem Fluss. Das war nicht einfach. Vage fielen ihm weiter das Ufer hinauf hastige Bewegungen ins Auge, und dann war Li Li neben Vol’jins linker Schulter, um ihrem Onkel zu helfen.

Ihre Blicke trafen sich. „Ich glaubte, dich schreien zu hören.“

„Vielleicht habe ich das sogar getan.“ Chen sank auf ein Knie und hob den Troll mit beiden Armen hoch. „Vol’jin, mein Freund, ist schwer verletzt. Vielleicht vergiftet. Ich habe keine Ahnung, was er hier macht. Ich weiß nicht einmal, ob er überleben wird.“

„Das ist Vol’jin, der aus all deinen Geschichten?“ Li Li starrte die übel zugerichtete Kreatur mit großen Augen an. „Was wirst du jetzt machen?“

„Ich werde alles für ihn tun, was wir hier für ihn tun können.“ Chen blickte zum Kun-Lai-Gipfel und dem weit oben darauf erbauten Shado-Pan-Kloster empor. „Und dann, schätze ich, werde ich ihn dort hochbringen, um zu sehen, ob die Mönche noch Platz für einen weiteren meiner Findlinge haben.“


2

Vol’jin, Schattenjäger des Dunkelspeer-Clans, konnte sich keinen schlimmeren Albtraum vorstellen. Er vermochte sich nicht zu rühren. Seine Gliedmaßen blieben steif. Was auch immer sie an Ort und Stelle hielt, lastete so schwer auf ihm wie Schiffstaue und war fester als Stahlketten. Zu atmen schmerzte, und er war außerstande, tief Luft zu holen. Er hatte es aufgegeben, sich dieser Mühe zu unterziehen, doch der Schmerz und die erschöpfte Furcht davor, dass er dann vielleicht ganz damit aufhören würde, hinderten ihn daran. Solange er Angst davor hatte, nicht zu atmen, war er am Leben.

Oder nicht?

Fürs Erste, mein Sohn, fürs Erste.

Vol’jin erkannte die Stimme seines Vaters sofort, genauso, wie er wusste, dass er sie nicht wirklich mit den Ohren hörte. Er versuchte, seinen Kopf in die Richtung zu drehen, aus der die Worte zu kommen schienen. Er konnte sich nicht rühren, doch sein Bewusstsein veränderte sich. Er sah seinen Vater, Sen’jin, mit sich Schritt halten, ohne dass er tatsächlich neben ihm herging. Sie bewegten sich beide, doch Vol’jin wusste weder wie noch wohin.

Wenn ich nicht tot bin, muss ich noch am Leb’n sein.

Von der anderen Seite, links von ihm, ertönte eine Stimme, kräftig und tief. Diese Entscheidung hängt noch in der Schwebe, Vol’jin.

Der Troll strapazierte sein Bewusstsein, um in Richtung dieser Stimme zu blicken. Eine Gestalt musterte ihn mit erbarmungslosen Augen – ein Troll, dem Aussehen nach zu urteilen, Furcht einflößend und mit einem Antlitz, das auf Vol’jin wie eine Rush’kah-Maske wirkte. Bwonsamdi, das Loa, das den Trollen als Wächter der Toten diente, schüttelte langsam den Kopf.

Was soll ich nur mit dir machen, Vol’jin? Ihr Dunkelspeere bringt mir nicht die Opfer dar, die ihr mir schuldet, obgleich ich euch dabei geholfen habe, eure Heimat von Zalazane zu befreien. Und jetzt klammerst du dich ans Leben, obgleich du dich vielmehr in meine Obhut begeben solltest. Habe ich euch vielleicht schlecht behandelt? Bin ich eurer Verehrung etwa nicht würdig?

Vol’jin wünschte verzweifelt, seine Hände würden sich zu Fäusten ballen, doch sie hingen schwach und schlaff an den Enden seiner toten Arme. Ich habe noch Dinge zu erledig’n.

Das Loa lachte; das Geräusch geißelte Vol’jins Seele. Hör dir deinen Sohn an, Sen’jin. Würde ich ihm sagen, dass seine Zeit gekommen ist, würde er mir sagen, dass seine Bedürfnisse aber von noch größerer Wichtigkeit seien. Wie kommt es nur, dass du einen so rebellischen Sohn großgezogen hast?

Sen’jins Gelächter senkte sich einem lindernden, kühlen Nebel gleich herab, der Vol’jins geschundenes Fleisch badete. Ich lehrte ihn, dass das Loa Stärke respektiert. Du hast dich darüber beschwert, dass er dir nicht genügend Opfer dargebracht hat. Und jetzt beschwerst du dich auch darüber, dass er mehr Zeit haben möchte, um dir größere Opfer zu bringen. Langweile ich dich so sehr, dass du meinen Sohn brauchst, um dich zu unterhalten?

Denkst du allen Ernstes, Sen’jin, dass er sich so am Leben festklammert, damit er mir dienen kann?

Vol’jin konnte fühlen, dass sein Vater lächelte. Mein Sohn mag für sein Handeln viele Gründe haben, Bwonsamdi; dir sollte der eine genügen, der deinen Zwecken entgegenkommt.

Willst du mir etwa sagen, wie ich meine Angelegenheiten zu regeln habe, Sen’jin?

Ich erinnere dich, großer Geist, lediglich an das, was du uns vor langer Zeit gelehrt hast, um in deinem Sinne zu dienen.

Anderes Gelächter, fernes Gelächter, vibrierte sanft durch Vol’jin. Noch ein Loa. Der hohe, wehklagende Tonfall eines Lachens, dann das dumpfe Grollen eines anderen, und beides wies darauf hin, dass Hir’eek und Shirvallah ihren Spaß an dem Wortwechsel hatten. Auch Vol’jin selbst fand einigen Gefallen daran, obgleich er wusste, dass er für diese Freiheit bezahlen würde.

Aus Bwonsamdis Kehle drang ein Knurren. Wärst du so leicht dazu zu bringen, dich zu fügen, Vol’jin, würde ich dich zurückweisen. Dann wärst du keines meiner wahren Kinder. Doch, Schattenjäger, wisse dies: Die Schlacht, die dir bevorsteht, könnte sich als schrecklicher erweisen als jede bisherige, die du erlebt hast. Womöglich wirst du dir wünschen, dich mir jetzt gefügt zu haben, da die Bürde, die dein Sieg mit sich bringt, so an dir nagen könnte, dass du letztlich zu Staub zermahlen wirst.

Schlagartig löste sich Bwonsamdis Präsenz in nichts auf. Vol’jin hielt nach dem Geist seines Vaters Ausschau. Er fand ihn dichtbei, doch auch er verblasste. Verliere ich dich jetzt von Neuem, Vater?

Du kannst mich überhaupt nicht verlieren, Vol’jin, denn ich bin ein Teil von dir. Solange du dir selbst treu bist, werde ich stets bei dir sein. Wieder spürte er, dass sein Vater lächelte. Und ein Vater, der so stolz auf seinen Sohn ist wie ich auf dich, würde diesen Sohn niemals alleine lassen.

Obgleich die Worte seines Vaters ein gewisses Maß an Nachdenken erforderten, schenkten sie Vol’jin genügend Trost, dass er nicht mehr länger um sein Leben fürchtete. Er würde leben. Er würde seinen Vater weiterhin mit Stolz erfüllen.

Er würde sich geradewegs jenem grässlichen Schicksal stellen, das Bwonsamdi ihm vorhergesagt hatte, und es allen Prophezeiungen zum Trotz meistern. Von dieser Überzeugung erfüllt, ging sein Atem leichter, sein Schmerz klang ab, und er versank in einem schwarzen Quell des Friedens.


Als er wieder zu Bewusstsein kam, stellte Vol’jin fest, dass er gesund und munter war, über beträchtliche Körperkraft verfügte und aufrecht stand. Die Sonne brannte grimmig auf ihn hernieder, während er sich zusammen mit Tausenden von anderen Trollen in einem Hof drängte. Die meisten schienen fast einen Kopf größer zu sein als er, doch keiner machte eine große Sache daraus. Tatsächlich schien ihn überhaupt keiner von den anderen zu bemerken.

Wieder ein Traum. Eine Vision.

Er erkannte den Ort, an dem er sich befand, nicht sofort, auch wenn ihn das Gefühl beschlich, früher schon einmal hier gewesen zu sein. Oder eher später, da sich diese Stadt der Invasion des Dschungels ringsum noch nicht ergeben zu haben schien. Die Steinschnitzereien an den Wänden waren klar und deutlich. Die Torbögen waren allesamt noch intakt. Die Pflastersteine waren weder kaputt gemacht noch geplündert worden. Und die Stufenpyramide, vor der sie alle standen, war noch nicht von den Zähnen der Zeit verwüstet.

Er stand inmitten einer Gruppe von Zandalari, Angehörigen jenes Troll-Stamms, von dem alle anderen Stämme abstammten. Im Laufe der Jahre waren die Zandalari größer geworden als die meisten und überschwänglich. In seiner Vision schien es sich bei ihnen weniger um einen Stamm als um eine Kaste von Priestern zu handeln, mächtig und gebildet, in jeder Hinsicht bereit, die Führung zu übernehmen.

In Vol’jins Zeit jedoch war ihre Gabe zu führen nicht mehr dieselbe wie zuvor. Wegen ihrer Träume waren alle hier gefangen.

Dies war das Zandalari-Imperium auf dem Höhepunkt seiner Macht. Einst beherrschte es Azeroth, bevor es seiner eigenen Macht zum Opfer fiel. Gier und Habsucht ließen Intrigen sprießen. Splittergruppen spalteten sich ab. Neue Reiche entstanden, wie etwa das Gurubashi-Reich, das Vol’jins eigene Dunkelspeertrolle ins Exil trieb, ehe es ebenfalls unterging.

Die Zandalari sehnten sich nach einer Rückkehr jener Zeiten, in denen sie die Vorherrschaft innehatten. In jenen Tagen waren die Trolle ein höchst nobles Volk gewesen. Vereint waren die Trolle in Sphären aufgestiegen, die alles übertrafen, was jemand wie Garrosh sich auch nur je hätte träumen lassen.

Ein Gefühl uralter, starker Magie durchströmte Vol’jin, um ihm die Erkenntnis zuteilwerden zu lassen, warum er ausgerechnet die Zandalari sah. Die Magie der Titanen war sogar noch älter als die Zandalari. Und sie war noch mächtiger. So hoch, wie die Zandalari über jenen Dingen gestanden hatten, die sich am Boden schlängelten und stachen, so weit standen die Titanen über ihnen – ebenso wie ihre Magie.

Vol’jin bewegte sich durch die Menge wie ein Zuschauer. In den Gesichtern der Zandalari glomm ein furchtsames Lächeln – ein Lächeln von der Art, wie er es bei Trollen gesehen hatte, wenn Trompeten schmetterten und Trommeln hämmerten, um sie in den Kampf zu rufen. Die Trolle waren dazu geboren, ihre Gegner zu erschlagen und in Stücke zu reißen – Azeroth war ihre Welt, und alles darin hatte sich ihnen zu unterwerfen. Und obgleich Vol’jin mit anderen Trollen vielleicht nicht einer Meinung darüber war, wer genau ihre Gegner waren, war er nicht weniger erbittert im Gefecht und ungemein stolz darauf, wie die Dunkelspeere ihre Feinde bezwungen und die Echo-Inseln befreit hatten.

Dann will Bwonsamdi mich mit dieser Vision also verhöhnen. Die Zandalari träumten von einem Imperium, und Vol’jin wünschte sich nur das Beste für sein Volk. Vol’jin kannte den Unterschied zwischen diesen Dingen. Ein Massaker zu planen war nicht schwer; eine Zukunft zu erschaffen, dazu brauchte es wesentlich mehr. Für ein Loa, das seine Opfer blutig und kampfgeschunden mochte, barg Vol’jins Ansatz nur wenig Reiz.

Vol’jin stieg die Pyramide empor. Während er höherkletterte, gewannen die Dinge an Substanz. Hatte er sich zuvor in einer stummen Welt befunden, konnte er jetzt Trommeln spüren, die durch den Stein vibrierten. Die Brise strich über sein helles Fell, zerzauste sein Haar. Sie trug den süßlichen Geruch von Blumen in sich – einen Geruch, der nur unwesentlich intensiver war als der von vergossenem Blut.

Das Trommeln ergriff von ihm Besitz. Sein Herz schlug rhythmisch. Stimmen drangen an sein Ohr. Rufe von unten. Befehle von oben. Er weigerte sich zurückzuweichen, kletterte aber auch nicht höher. Ihm war, als würde er durch die Zeit aufsteigen wie durch Seewasser. Wenn er die Spitze erreichte, würde er bei den Zandalari angelangt sein und fühlen, was sie fühlten. Er würde ihren Stolz erfahren. Er würde in ihren Träumen sein.

Er würde zu einem der ihren werden.

Diesen Luxus würde er sich nicht erlauben.

Sein Traum für den Dunkelspeerstamm mochte Bwonsamdi nicht begeistert haben, doch für die Dunkelspeere bedeutete er Leben. Das Azeroth, das die Zandalari einst kannten, hatte sich vollkommen und unwiederbringlich verändert. Portale hatten sich aufgetan, durch die neue Völker hergekommen waren. Länder waren zerschmettert, Völker pervertiert und mehr Macht freigesetzt worden, als die Zandalari auch nur ahnten, dass sie existierte. Die grundverschiedenen Völker – darunter Elfen, Menschen, Trolle, Orcs und sogar Goblins – hatten sich zusammengetan, um Todesschwinge zu bezwingen, um so ein Machtgefüge zu erschaffen, das gegen die Zandalari aufbegehrte und sie beleidigte. Die Zandalari gierten danach, ihre Herrschaft über eine Welt zurückzuerlangen, die sich so sehr gewandelt hatte, dass sich ihre Träume niemals erfüllen würden.