Der andere nickte rasch, dann hob er die Pfoten an den Kopf, als wäre ihm bei der Bewegung beinahe der Schädel von den Schultern gefallen. „Für einen wilden Hund war sie ziemlich jung.“

Chens Augen wurden schmal. „Li Li Sturmbräu.“

„Hattet Ihr auch schon Probleme mit Ihr?“

Chen knurrte und bleckte die Zähne, denn das war es schließlich, was ein Onkel in einer solchen Situation tun musste. „Sie ist meine Nichte. Und ich bin ein noch viel wilderer Hund als sie. Sie wird schon ihre Gründe gehabt haben, euch am Leben zu lassen. Sagt uns, in welche Richtung sie gegangen ist, dann werde ich diese Gründe nicht hinterfragen müssen.“

Die beiden zuckten ängstlich zusammen und deuteten hastig nach Norden. „Seit dem letzten Schnee sind viele Leute nach Süden gekommen, um Hilfe zu suchen. Wir haben Essen geschickt. Wir werden Euch auch etwas einpacken, dann könnt Ihr es mitnehmen, wenn Ihr dorthin geht.“

„Bevor ihr einen Karren sucht und selbst Essen nach Norden bringt, meinst du?“

„Ja, ja.“

„Das klingt gut.“

Anschließend schwieg Chen, ebenso die Brüder. Yalia blieb gleichfalls stumm, aber ihr Schweigen war von anderer Natur. Nachdem sie den Brei gegessen hatten, machte Chen Tee und mischte ein paar Zutaten hinzu, die die Heilung der Brüder beschleunigen würden. „Wickelt die Teeblätter in Stoffstreifen und benutzt sie als Wickel. Das wird eure Schmerzen lindern.“

„Ja, Meister Sturmbräu.“ Die beiden Pandaren, die zur Steinacker-Familie gehörten, verbeugten sich tief und oft, während die Reisenden sich wieder auf den Weg machten. „Danke, Meister Sturmbräu! Gesegnet sei Eure Nichte und Eure Reise!“

Yalia öffnete den Mund erst wieder, als sie einen Hügel überquert hatten, sodass seine Kuppe zwischen ihnen und dem Acker lag. „Ihr hättet sie doch nicht wirklich geschlagen?“

Chen lächelte. „Ihr solltet mich gut genug kennen, um das wissen.“

„Aber Ihr habt Ihnen Angst gemacht.“

Er breitete die Arme aus und sog das Bild des schmalen Tales in sich auf, das, von steilen Bergen eingefasst, vor ihnen lag. Unter ihnen schlängelte sich ein Fluss dahin, blau, wo die Sonnenstrahlen ihn nicht erreichten, silbern, wo das Licht ihn berührte. Ringsum lag Grün, so viel und so kräftiges Grün, und dazwischen das satte Braun bestellter Felder, das von der Fruchtbarkeit Pandarias kündete. Selbst die Art, wie die Häuser in die Landschaft gebaut waren, verschandelte dieses Bild nicht, sondern rundete es perfekt ab. Alles war genauso, wie es sein sollte.

„Ich bin auf Shen-zin Su aufgewachsen, und ich liebe meine Heimat. Aber wenn ich mir das hier ansehe, dann ist es, als hätte ich in einem Gemälde gelebt. Einem wunderschönen Gemälde, ja, aber nicht dem echten Pandaria. Dieses Land spricht zu mir. Es füllt eine Leere in mir, die ich nie zuvor bemerkt hatte. Vielleicht bin ich deswegen so viel gereist. Ich habe gesucht, aber ich wusste nicht, wonach.“

Er runzelte die Stirn. „Ich habe die beiden nicht so sehr wegen Li Li angeknurrt, sondern weil sie sie einen ‚wilden Hund‘ genannt haben. Für sie, für mich, ist Pandaria unser Zuhause. Es ist ein Ort, wo ich mich niederlassen könnte.“

„Und doch werden diese beiden und viele andere wie sie nie müde, zu betonen, dass Ihr nicht aus Pandaria seid.“

„Ihr versteht also.“

Sie reichte ihm den Leinenbeutel mit den Herzensruhen. „Besser, als Ihr ahnt.“


Sie maßen ihre Reise gen Norden nach Zouchin nicht in Tagen oder Stunden, sondern an der Zahl der Geschichten über Li Li, die sie zu hören bekamen. Seine Nichte war hilfsbereit, aber aufbrausend. Mehr als ein Pandaren, dem sie begegneten, nannte sie einen wilden Hund, aber meist, weil sie sich angeblich selbst so nannte. Und sie schien auch noch stolz darauf zu sein, wie sich herausstellte. Chen konnte nicht umhin zu lächeln, und er konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie die Legende von einem wilden Hund in Pandaria die Runde machte.

In Zouchin, das sich zwischen Klippen und Meer schmiegte, fanden sie schließlich Li Li, die angestrengt in der Mitte des Dorfes arbeitete. Der Sturm hatte hier ein Boot zerstört, mehrere Häuser zum Einsturz gebracht und einen Kai von seinen Stützpfeilern gerissen, und Li Li hatte sich sofort nützlich gemacht. Als Chen und Yalia den Ort erreichten, leitete sie gerade eine Bergungsmannschaft und trieb gleichzeitig die Zimmermänner an, ihre Arbeit an den beschädigten Gebäuden zu beschleunigen.

Chen packte Li Li, umarmte sie und wirbelte sie im Kreis, wie er es getan hatte, als sie noch ein Kind war. Sie quiekte, diesmal aber aus Protest, weil sie ihre Würde zerstört sah. Also setzte er sie ab und verbeugte sich, tief und respektvoll. Diese Geste brachte alle gackernden Zungen zum Verstummen, aber als sie sich ebenfalls verbeugte, ein wenig tiefer und eine Sekunde länger, begann das Getuschel sogleich wieder von vorn.

Nun stellte Chen Yalia seiner Nichte vor. „Schwester Yalia Weisenwisper ist mit mir vom Kloster hierher gereist.“

Li Li zog eine Augenbraue nach oben. „Ich wette, das war eine lange Reise. Wie habt Ihr es geschafft, dass er nicht in jede Taverne eingekehrt ist und den ganzen Weg lang Bier getrunken hat?“

Yalia lächelte. „Unsere Reise wurde durch die Geschichten von Li Li, der wilden Hündin, und ihrer Taten beschleunigt.“

Li Lis Lächeln wurde breiter, und sie stieß ihrem Onkel den Ellbogen in die Rippen. „Sie ist von der aufgeweckten Sorte, Onkel Chen.“ Sie kratzte sich am Kinn. „Weisenwisper? Es gibt hier eine Weisenweiden-Familie … der Name ist fast identisch. Sie haben den Sturm ziemlich gut überstanden, abgesehen von ein paar Beulen und blauen Flecken.“

„Gut zu wissen, Li Li.“ Yalia nickte respektvoll. „Wenn unsere Namen sich so sehr gleichen, werde ich sie vielleicht besuchen, falls Zeit dafür ist.“

„Ich bin sicher, sie werden über die Ähnlichkeit staunen.“ Li Li blickte sich im Dorf um. „Dann mache ich mich mal wieder an die Arbeit. Auf dem Wasser macht den Einheimischen keiner was vor, aber auf dem Land brauchen sie ein wenig Hilfe.“

Sie umarmte ihren Onkel noch einmal und rannte dann zurück zu der Bergungsmannschaft – deren Bewegungen rasch schneller wurden, als sie näher kam.

Chen legte den Kopf schräg. „Ihr wart nicht mehr hier, seit Ihr dem Kloster beigetreten seid und Taran Zhu Euren Namen änderte. Weiß Eure Familie, dass Ihr noch am Leben seid?“

Sie schüttelte den Kopf. „Manche von uns werden als wilde Hunde geboren, Meister Sturmbräu. Andere wählen diesen Weg. Es ist das Beste so.“

Chen nickte und gab ihr den Beutel mit den Herzensruhen zurück.


9

Es überraschte Vol’jin, dass Tyrathan bereits wach und aus dem Bett war, als er mit einem Jihui-Brett und den Spielsteinen in die Krankenstation trat. Der Mensch hatte es bis zum Fenster hinüber geschafft und stand nun dagegengelehnt, so wie Vol’jin selbst vor nicht allzu langer Zeit. Dem Troll fiel auf, dass der Mann seinen Stock am Fußende des Bettes zurückgelassen hatte.

Tyrathan blickte über die Schulter. „Man kann die Spuren des Sturms kaum noch erkennen. Es heißt, den Pfeil, der dich tötet, siehst du nie kommen. Ich habe diesen Sturm nicht kommen sehen. Nicht im Geringsten.“

„Taran Zhu meinte, solche Stürme wären ungewöhnlich, aber nicht selt’n.“ Vol’jin platzierte das Spielbrett auf dem Beistelltisch. „Je später sie komm’n, desto schwerer sind sie.“

Der Mann nickte. „Ich kann nichts sehen, aber ich kann es noch immer spüren. Da ist eine Kälte in der Luft.“

„Du solltest nicht barfuß herumspazier’n.“

„Du auch nicht.“ Tyrathan drehte sich ein wenig wackelig um und stützte sich mit den Ellbogen am Fensterrahmen ab. „Du hast dich selbst ganz gut an die Kälte gewöhnt. Noch vor dem Morgengrauen aufstehen, im Schnee an der Nordseite herumstapfen, wo den ganzen Tag keine Sonne scheint. Bewundernswert, aber dumm. Ich kann dir nur davon abraten.“

Vol’jin schnaubte. „Einen Troll dumm zu nennen, ist auch nicht sonderlich klug.“

„Ich hoffe, du lernst aus meinen Fehlern.“ Der Mensch stieß sich von der Wand ab und wankte auf das Bett zu. Trotz seiner Schwäche war das Humpeln fast ganz verschwunden. Vol’jin wandte sich ihm zu, machte aber keinerlei Anstalten, ihm zu helfen. Tyrathan lächelte und hielt sich am Fußende des Bettes fest, um sich zu erholen. Das war alles Teil des Spiels, das sie spielten.

Anschließend ließ der Mann sich auf den Rand des Bettes sinken. „Du bist spät dran. Musstest du meine Arbeiten übernehmen?“

Vol’jin tat die Frage mit einem Wink ab und zog den Beistelltisch herüber, dann holte er sich einen Stuhl. „So erhole ich mich schneller.“

„Jetzt musst du dich also um mich kümmern.“

Der Troll hob den Kopf. „Auch Trolle hab’n ein Pflichtgefühl.“

Tyrathan lachte. „Sogar ich kenne Trolle gut genug, um das zu wissen.“

Vol’jin schob das Spielbrett in die Mitte des Tisches. „Wirklich?“

„Erinnerst du dich noch daran, wie du meinen Troll-Akzent kommentiert hast? Du sagtest, es sei der Schlingendorn-Akzent?“

„Und du hast mich ignoriert.“

„Ich habe nur nicht geantwortet.“ Tyrathan nahm einen Behälter, schüttelte die Spielsteine heraus und ordnete sie in Sechsergruppen an. „Willst du wissen, wie ich die Sprache gelernt habe?“

Vol’jin zuckte die Schultern – nicht weil es ihn nicht interessierte, sondern weil er wusste, dass der Mensch es ihm ohnehin erzählen würde.

„Du hattest recht. Es ist der Akzent des Schlingendorntals. Ich fand einen Troll und behielt ihn ein Jahr bei mir. Ich bezahlte ihn gut, und er redete sich wohl ein, dass er mein Führer wäre. Er erfüllte seine Pflichten vorbildlich. Von ihm erlernte ich eure Sprache – zuerst, ohne dass er es überhaupt merkte. Ich hörte ihm einfach zu, und später unterhielten wir uns dann so. Ich habe ein Talent für Sprachen.“

„Das glaube ich dir.“

„Das Fährtenlesen ist auch eine Sprache. Jeden Tag bin ich seiner Fährte gefolgt, vom selben Fleck aus, bis seine Fußspuren sich verliefen. In der heißen Jahreszeit, nach dem Regen, lernte ich diese Sprache noch besser. Ich konnte sagen, wann er an einer Stelle vorbeigekommen war, wie schnell er gegangen war, ob gebückt oder aufgerichtet.“

„Hast du ihn nach diesem Jahr umgebracht?“

Tyrathan warf die schwarzen Würfel zurück in den Behälter. „Nicht ihn. Aber ich habe andere Trolle getötet.“

„Ich hab keine Angst vor dir.“

„Ich weiß. Ich habe auch Menschen getötet, ebenso wie du.“ Er stellte den Behälter auf den Tisch. „Dieser Troll, er nannte sich Keren’dal. Er betete. Zumindest dachte ich, er würde beten, und ich brachte es zur Sprache. Da sagte er, er würde mit den Geistern reden. Ich habe vergessen, wie er sie nannte.“

Vol’jin schüttelte den Kopf. „Das hast du nicht vergessen. Er hat’s dir nie erzählt. Geheimnisse bleiben Geheimnisse.“

„Manchmal war er reizbar, so wie du. Meistens dann, wenn er zu ihnen sprach, aber keine Antwort erhielt.“

„Antwortet dein Heiliges Licht dir denn, Menschling?“

„Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, daran zu glauben.“

„Wahrscheinlich hat es dich darum im Stich gelass’n.“

Tyrathan lachte. „Ich weiß, warum ich verlassen bin. Aus demselben Grund wie du.“

Vol’jin zwang sein Gesicht zu einer neutralen Maske, aber allein das zeigte ihm, dass er sich verraten hatte. Tatsache war, seitdem er durch Tyrathans Erinnerungen gewandert war, seit er die Welt durch die Augen des Menschen gesehen hatte, waren die Loa distanziert und leise. Es fühlte sich an, als würde der Sturm, der über das Kloster hinweggezogen war, in der Geisterwelt weitertoben. So konnte er Bwonsamdi und Hir’eek und Shirvallah zwar sehen, aber nur als vage graue Silhouetten, die hinter weißen Wogen verschwanden.

Er glaubte noch immer an die Loa, an ihre Führung und ihre Geschenke, und daran, dass es nötig war, sie anzubeten. Er war ein Schattenjäger. Er konnte Spuren mit derselben Leichtigkeit lesen wie Tyrathan; und genauso mühelos konnte er normalerweise mit den Loa in Kontakt treten. Doch dieser Sturm verschluckte Spuren und wehte Worte im wirbelnden Wind davon.

Er hatte versucht, sie zu erreichen, und sein letzter Versuch war überhaupt erst der Grund, dass er zu spät zu diesem Treffen mit Tyrathan gekommen war. Er hatte sich in seiner Kammer gesammelt und das Bewusstsein für seine Umgebung hinter sich gelassen, aber er konnte die Barriere des Sturms einfach nicht durchbrechen. Die Kälte, die Entfernung von seiner Heimat und die Tatsache, dass er ins Fleisch des Menschen geschlüpft war – all das schien ihn abzulenken. Er konnte sich nicht stark genug konzentrieren, um dieses Hindernis zu durchbrechen und die Distanz zwischen sich und den Loa zu überbrücken.

Es war, als hätte Bwonsamdi seinen Anspruch auf Vol’jin aufgegeben, als hätte er das Interesse an ihm verloren.

Der Kopf des Trolls ruckte hoch. „Und warum bist du verlass’n?“

„Wegen meiner Furcht.“

„Ich habe keine Angst.“

„Doch, das hast du.“ Tyrathan tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. „Ich kann es noch immer in meinem Geist spüren, Vol’jin. In meine Haut zu schlüpfen, hat dir eine Heidenangst eingejagt. Nicht weil du es abstoßend fandest – jedenfalls nicht nur deswegen. Sondern weil ich so zerbrechlich bin. Oh ja, dieses Gefühl ist in mir zurückgeblieben, bitter und ölig, und es wird nie wieder verschwinden. Es ist ein Eindruck, den ich sicher in Ehren halten werde, aber du scheinst zu übersehen, wie wichtig er für dich ist.“

Vol’jin nickte einmal, obwohl er eigentlich nicht wollte.

„Dass ich so leicht Schaden nehme, hat dich daran erinnert, wie nahe du dem Tod warst. Da lag ich, mit gebrochenem Bein, festgenagelt, ohne jede Hoffnung auf Flucht. Ich wusste, dass ich sterben würde. Und du hast dasselbe gefühlt, als sie versuchten, dich umzubringen. Weißt du noch, was danach geschehen ist?“

„Chen hat mich gefund’n. Mich hierher gebracht.“

„Nein, nein. Das hat man mir schon erzählt.“ Der Mensch schüttelte den Kopf. „Woran erinnerst du dich, Vol’jin?“

„Als ich in deinem Körper gewesen bin, warst du da in meinem?“

„Nein. Das würde ich auch nie tun. Es war schlimm für dich zu sehen, wie verwundbar ich bin, aber noch schlimmer wäre es, wenn ich sehen würde, wie unverwundbar du dich fühlst. Aber das ist nicht der Punkt. Erinnerst du dich, was nach dem Kampf geschah? Wie du dorthin gelangt bist, wo Chen dich gefunden hat? Weißt du überhaupt, warum du noch am Leben bist?“

„Ich lebe, Mensch, weil ich nicht sterben wollte.“

Der kleine Käfer von einem Mann lachte arrogant. „Das redest du dir ein. Aber genau das ist es, wovor du Angst hast. Du weißt es nämlich nicht. Dieses Glied in der Kette der Ereignisse zwischen dem Vol’jin, der du warst, und dem Vol’jin, der du jetzt bist, wurde durchtrennt. Du kannst zurückblicken, und du siehst, wer du warst. Du kannst dich fragen, ob das noch immer du bist – aber da ist eine Leere. Du bist dir nicht sicher. Du kannst nicht sicher sein“