Der Troll knurrte. „Und du bist sicher.“

„Wer ich bin?“ Wieder lachte Tyrathan, aber die Tonlage hatte sich verändert. Jetzt durchzogen Melancholie und ein Hauch von Wahnsinn den Laut. „Du hast gesehen, was du gesehen hast. Soll ich dir den Rest erzählen? Das, was du nicht gesehen hast?“

Wieder reagierte Vol’jin nur mit einem Nicken, wobei er versuchte, nicht über die Worte des Mannes zu urteilen.

„Ich habe aufgehört, Tyrathan Khort zu sein. Ich bin nicht als Mensch von diesem Ort fortgekrochen, sondern als Tier. Vielleicht sah ich mich selbst, wie mich auch ein Troll sehen würde. Verwundet, erbärmlich, angetrieben nur von Hunger und Durst. Ich, ein Mann, der mit Fürsten und Prinzen an einem Tisch gesessen, das beste Fleisch auf einem Silberteller vorgesetzt bekommen hatte, musste plötzlich Larven aus sterbenden Bäumen kratzen. Ich aß Wurzeln, weil ich hoffte, dass sie mich entweder heilen oder ganz umbringen würden, aber viele von ihnen sorgten einfach nur dafür, dass ich mich noch elender fühlte. Ich deckte mich mit Schlamm zu, um das Ungeziefer fernzuhalten, und ich knotete Zweige und Blätter in meine Haare, damit ich mich vor Jägern beider Seiten verstecken konnte. Ich schreckte vor allem und jedem zurück, bis ein Pandaren, der gerade fröhlich summend Kräuter sammelte, über mich stolperte.“

„Warum hast du nicht deinen Tierbegleiter geruf’n?“

Das ließ Tyrathan innehalten. Er senkte den Kopf und schwieg einen Moment. Nachdem er geschluckt hatte, klang seine Stimme angespannter, leiser. „Mein Tiergefährte hatte sich an den Mann gebunden, der ich einmal war. Ich wollte ihm nicht seine Ehre rauben, indem ich mich ihm so zeigen würde.“

„Und jetzt?“

Der Mensch schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht länger Tyrathan Khort. Mein Gefährte antwortet nicht mehr auf meinen Ruf.“

„Hat das damit zu tun, dass du den Tod fürchtest?“

„Nein, ich fürchte andere Dinge.“ Der Mann blickte auf, und seine Augen schimmerten wie Smaragde. „Du fürchtest den Tod.“

„Ich hab keine Angst vor dem Sterb’n.“

„Ich meinte mehr als nur das Sterben.“

Die Bemerkung war ein Schwert, das sich bis zum Heft in Vol’jins Brust bohrte. Er hatte erkannt, wie passend die Analogie mit der Kette war, auch wenn er es ungern zugab. Offensichtlich hatte die Person, die er gewesen war, Fehler gemacht, und diese Fehler hatten beinahe zu ihrem Tod geführt. Doch er lebte noch, und er hatte dazugelernt; er würde dieselben Fehler kein zweites Mal begehen. Etwas in seinem Geist schloss daraus jedoch, dass der alte Vol’jin makelbehaftet, minderwertig gewesen war. Dass auch ihm Irrtümer unterliefen, konnte er noch akzeptieren, aber diese Vorstellung war zu viel. Dennoch ließ sich der Gedanke nicht mehr abschütteln, dass er unter diesen veränderten Bedingungen nie wieder der Troll sein konnte, der er einmal gewesen war.

Die Kette ist durchtrennt. Die Verbindung unterbrochen.

Dieser Verlust verlieh ihm einen neuen Blickwinkel auf das große Ganze. Vol’jin war nicht nur ein Troll. Er war der Anführer der Dunkelspeere. Er war einer der Köpfe der Horde. Der alte Troll war gestorben. Konnte die Distanz der Loa darauf hindeuten, dass der Schattenjäger ebenfalls tot war? Und bedeutete dieser Tod, dass auch die Dunkelspeere sterben würden, oder die Horde?

Bedeutet das, der Traum meines Vaters stirbt? Sollte dieser Traum enden, würde der Kampf zur Befreiung der Echo-Inseln von Zalazane dann nicht wie ein grausamer Scherz erscheinen? All das Blut, das vergossen worden war – bedeutungslos. All der Schmerz – sinnlos. Ein Ereignis nach dem anderen, alles, was sein Leben ausgemacht hatte und mehr, bis hin zur Geschichte der Trolle, begann zu zerbröckeln.

Habe ich Angst davor, dass mein Versag’n, mein Tod, den Untergang der Dunkelspeere, der Horde, aller Trolle nach sich zieht? Er stellte sich den schwarzen Abgrund zwischen dem Vol’jin, der in einer Blutlache in einer dunklen Höhle lag, und dem Vol’jin, der im Kloster erwachte, bildlich vor. Wird diese Leere alles verschling’n?

Die Stimme des Menschen war kaum mehr als ein Wispern. „Möchtest du wissen, was das wirklich Grausame an der Sache ist, Vol’jin?“

„Sag es mir!“

„Du und ich, wir sind beide gestorben. Wir sind nicht mehr, wer wir waren.“ Tyrathan blickte auf seine leeren Hände hinab. „Jetzt müssen wir uns neu erschaffen. Nicht unser altes Ich wiederherstellen, sondern uns von Grund auf neu erschaffen. Und das ist das Grausame: Beim ersten Mal hatten wir all die Energie der Jugend. Wir wussten nicht, dass unsere Träume unerreichbar sind – wir gingen einfach los und verfolgten sie. Die Unschuld beschützte uns, unser Enthusiasmus und unsere unerschütterliche Zuversicht halfen uns über jeden Rückschlag hinweg. Aber jetzt haben wir nichts von alledem mehr. Jetzt sind wir älter, schlauer, müder.“

„Aber die Last, die wir tragen, ist nicht mehr so schwer.“

Der Mann schmunzelte. „Wohl wahr. Ich glaube, darum gefällt mir die Schlichtheit des Klosters so. Alles ist spartanisch. Die Pflichten sind klar umrissen. In diesem Umfeld kann man sein Bestes geben.“

Die Augen des Trolls wurden schmal. „Du kannst mit Pfeil und Bog’n umgeh’n, aber du beobachtest die Schützen nur. Warum machst du nicht mit?“

„Ich habe noch nicht entschieden, ob das noch ein Teil von mir ist.“ Tyrathan blickte auf und öffnete den Mund, aber nur, um ihn abrupt wieder zuzuklappen.

Vol’jin neigte den Kopf. „Du hattest eine Frage.“

„Eine Frage zu haben heißt nicht, dass man eine Antwort verdient.“

„Nun frag schon!“

„Werden wir unsere Ängste überwinden?“

„Keine Ahnung.“ Der Troll presste die Lippen zu einer schmalen, grimmigen Linie zusammen. „Wenn ich eine Antwort finde, bist du der Erste, der’s erfährt.“


Als Vol’jin sich in dieser Nacht hinlegte und der Schlaf die wachende Welt hinfortwischte, bewiesen die Loa, dass sie sich noch nicht ganz von ihm abgewendet hatten. Er fand sich als eine von Tausenden Fledermäusen wieder, die durch die Nacht flatterten. Hir’eek war zwar nicht bei ihm, aber es konnte nur der Wille des Loa sein, dass Vol’jin im Körper seines Symboltiers steckte. Also flog er mit den anderen dahin und las in den Echos ihrer Schreie, welche die Dunkelheit in eine farblose Welt der Geräusche verwandelten.

Er war überzeugt, dass er nur deshalb noch mit den Loa in Verbindung treten konnte, weil ein so großer Teil von ihm sich als Schattenjäger sah. Er konnte zwar nicht in diese Leere blicken, aber wenn jemand sie zu durchdringen vermochte, dann ein Schattenjäger. Von all dem, was er in seinem Leben erlernt und durchgemacht hatte, war es dieser Teil gewesen, der ihn lange genug am Leben gehalten hatte, um aus der Höhle zu fliehen.

Und die Fledermäuse in dieser Höhle, die haben die Leere geseh’n. Sie wiss’n, was ich vergess’n habe. Er hoffte, dass diese Vision ihm die Leere zeigen würde, und sei es nur in der Schallsicht der Fledermäuse. Und er hoffte, dass die Kette sich wieder zusammenfügen ließe, auch wenn er tief in seinem Inneren wusste, dass es nicht leicht werden würde.

Doch in seiner Weisheit führte Hir’eek den Troll an einen anderen Ort, in eine andere Zeit. Die scharfen Kanten der Steinhäuser zeigten Vol’jin, dass er von neuen Gebäuden umgeben war, nicht von alten Ruinen. Er vermutete daher, dass man ihn in die Periode zurückgebracht hatte, als viele verschiedene Stämme aus den Zandalari hervorgegangen waren und die Trolle sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht befunden hatten. Die Fledermäuse kreisten, dann ließen sie sich in den hohen Türmen um einen zentralen Hof nieder, wo Troll-Legionen eine wogende Menge von insektoiden Aqir-Gefangenen dahinführten.

Es waren Amani, Waldtrolle, die gerade aus dem Krieg mit den Aqir zurückkehrten. Vol’jin kannte die Geschichte genau, aber er vermutete, dass Hir’eek ihn an mehr erinnern wollte als nur an die glorreichen Tage des Amani-Imperiums.

Denn genau die zeigte ihm die Vision. Trolle geleiteten die Aqir mit vorgehaltenen Speeren eine Treppe hinauf, an deren Spitze bereits Priester warteten. Akolyten hievten die Gefangenen anschließend mit bloßgelegten Bäuchen auf Steinaltare, die ganz glitschig waren von Wundsekreten, und dann hoben die Priester Dolche über den Kopf. Die Klinge und das Heft waren jeweils mit einem Symbol verziert, eines für jedes Loa. Die Schallsicht zeigte Vol’jin auch die Griffe, und einen Herzschlag lang sah er auf einem Hir’eeks Gesicht, bevor die Klinge nach unten gerammt wurde und den Bauch des Opfers aufschnitt.

Da manifestierte sich Hir’eek selbst über dem Altar, während der Geist des Aqir als ätherische Dampfwolke aus seiner Leiche emporstieg. Der Fledermausgott atmete sie ein, und dann zog er sich mit unmerklichen Bewegungen seiner sanften Flügel dichter zusammen, sodass seine hell leuchtende Gestalt klarer und schärfer wurde.

Das konnte die Schallsicht Vol’jin aber nicht zeigen. Das sah er mit seinem inneren Auge; eine Fähigkeit, welche er als Schattenjäger verfeinert hatte und der er bedingungslos vertraute. Hir’eek demonstrierte dem Troll, wie man ihn angemessen verehrte – die Pracht und Ehre, die ein Loa verdiente.

Eine Stimme erklang in Vol’jins Kopf, hoch und piepsend. Du hast hart gearbeitet, damit die Dunkelspeere weiterbestehen und es Trolle gibt, die uns anbeten. Diese Mühe, sie zieht dich von uns fort. Dein Körper heilt, aber deine Seele nicht. Und sie wird nie gesunden, wenn du dich nicht wieder des echten Weges besinnst. Wende dich von deiner Vergangenheit ab, und der Abgrund wächst weiter.

„Aber wird er sich schließen, wenn ich zu den alten Wegen zurückkehre, Hir’eek?“ Vol’jin saß senkrecht da und sprach in die Dunkelheit hinein. Anschließend wartete er. Und lauschte.

Doch es kam keine Antwort, und darin sah er ein böses Omen.


10

Khal’ak weigerte sich, den Umhang aus Tigerfell enger um sich zu schlingen, aber sie war doch dankbar für seine Wärme. Obwohl der wütend heulende Sturm sich längst an den hölzernen Befestigungsmauern erschöpft hatte, welche den Hafen auf der Insel des Donnerkönigs umgaben, so schnitten doch weiterhin scharfe Windzüge und eisige Böen in ihr entblößtes Fleisch. Sie hatte gehofft, dass sie inzwischen genug Eistrollfleisch gegessen hätte, um deren Resistenz gegen die Kälte in sich aufzunehmen, aber augenscheinlich war dem nicht so.

Nicht weiter schlimm. Mir schmeckt Sandwüterfleisch ohnehin besser. Die Wüstenumgebung gab ihnen mehr Geschmack. Hier, nördlich von Pandaria, nützte ihr der Gedanke zwar wenig, aber die Zeit würde kommen. Wenn wir Kalimdor zurückerobern.

Ja, diese Zeit würde kommen. Sie wusste es. Alle Zandalari wussten es. Sämtliche Trolle stammten von dieser noblen Blutlinie ab, aber die meisten hatten sich weiter und weiter von diesen Wurzeln entfernt und waren dabei immer tiefer gesunken. Man musste sich nur ihre Physiologie ansehen, um das zu erkennen: Khal’ak war größer als jeder unreine Troll, dem sie je begegnet war, und im Vergleich zu der Hingabe, die sie den Loa schenkte, war die Verehrung der anderen nur ein Spiel. Zugegeben, einige Trolle achteten noch die Traditionen der Vergangenheit – die Schattenjäger waren eines der seltenen Beispiele dafür –, aber ihre eigenen Traditionen waren nicht länger die der echten Zandalari.

Wenn sie bei ihren Missionen für Vilnak’dor durch die Welt reiste, glaubte sie manchmal, inmitten der verdorbenen Trolle einen Hauch, einen Funken der traditionellen Wege zu erkennen. Sie suchte stets nach jenen, die Elemente der alten Tage in sich trugen, und oft war diese Suche vergebens. Viele, denen sie begegnete, waren Heuchler, die für sich in Anspruch nahmen, die einzig rechtmäßigen Erben der Zandalari zu sein, so als würden Khal’ak und ihr Stamm überhaupt nicht existieren. Nur zu oft – eigentlich immer, um die Wahrheit zu sagen – waren diese selbst ernannten Retter der Trolle aber nur das erbärmliche Produkt einer degenerierten Gesellschaft.

Dass sie so oft scheiterten, überraschte sie inzwischen nicht mehr.

Durch eine lange Reihe von Trollen, welche von den Überlieferungen und Traditionen geprägt waren und sie seit Jahrtausenden getreulich befolgten und weitergaben, stammte Vilnak’dor von den Zandalari ab. Er hatte sich nicht den Verlockungen hingegeben, denen die anderen erlegen waren. Er saß nicht dem Irrglauben auf, dass man die Reiche der Amani und Gurubashi wiederbeleben und verbessern könnte. Er akzeptierte, dass sie ein Fehlschlag gewesen waren und dass dieses Scheitern in einer grundlegenden Instabilität begründet lag. Sie wiederherstellen zu wollen, hieße, ein Desaster herauszufordern, also war er noch weiter in die Vergangenheit zurückgegangen, um eine Allianz aufleben zu lassen, die einst Früchte getragen hatte.

Ein Kapitän der Mogu näherte sich ihr voll Respekt, obwohl sie doch eigentlich an den Mauern seiner Stadt stand. Der dunkelhäutige, kräftig gebaute Mogu überragte sie um anderthalb Köpfe, und sein löwenartiges Äußeres passte außerordentlich gut zu Panadria. Seine Augenbrauen, sein Bart und sein Haupthaar waren so strahlend weiß, wie sein Körper schwarz war. Als sie zum ersten Mal Statuen gesehen hatte, die die Mogu abbildeten, hielt sie sie für künstlerisch überspitzt. Doch als sie den Mogu dann wirklich begegnete, bemerkte sie ihren Irrtum, und als sie sie im Kampf beobachten konnte, wurde ihr klar, dass die weiche Rundlichkeit ihres Äußeren nur die Schärfe und Kantigkeit ihrer Absichten und ihres Muts verbarg.

„Mylady, wir haben fast alles verladen. Mit der ausgehenden Tide können wir nach Süden segeln.“

Khal’ak blickte auf die schwarze Flotte hinab, die im dunklen Wasser ruhte. Ihre Truppen, einschließlich ihrer Elitelegion, waren bereits in Reih und Glied an Bord marschiert. Die Angriffstruppen bestanden abgesehen von Mogu-Spähern hauptsächlich aus Zandalari-Truppen. Keine niederen Trolle, erst recht niemand aus den niederen Völkern – obwohl sie gerne auf Goblin-Artillerie oder eine Handvoll ihrer Kriegsmaschinen zurückgegriffen hätte.

Nur zwei Schiffe waren noch an der Anlegestelle: Ihr Flaggschiff, das als Letztes ablegen würde, und ein kleineres Schiff, das eigentlich schon längst vor dem Hafendamm ankern sollte. „Warum die Verspätung?“

„Es wurd’n Bedenken ausgedrückt, wegen Zeichen und Omen.“ Der Mogu-Kapitän stand kerzengerade da, seine gewaltigen Fäuste hinter dem Rücken verborgen. „Der Sturm. Das verstehen sie nicht.“

Ihre Augen wurden zu Schlitzen. „Der Schamane. Natürlich. Ich werde mich selbst darum kümmern.“

„Die Tiden drehen sich in sechs Stunden.“

„Das sollte nicht länger als sechs Minut’n dauern, wenn ich erst dort unten bin.“

Der Mogu verbeugte sich so ehrerbietig, dass Khal’ak ihm seinen Respekt beinahe abgekauft hätte. Es war nicht so, als würden er oder die anderen Mogu einen Groll gegen die Zandalari hegen oder sie hassen. Sie bedauerten nur, dass sie auf ihre Hilfe angewiesen waren, und im Stillen wunderten sie sich, warum es so lange gedauert hatte, bis die Zandalari ihnen diese Hilfe angeboten hatten.