So schnell sie konnten, rannten sie den Berg hinab. Vol’jins längere Beine legten mit jedem Schritt eine größere Entfernung zurück, aber schon nach Kurzem begannen Schmerzen in seine Seite zu stechen. Er ließ sich auf ein Knie fallen, um Atem zu schöpfen, was Tyrathan die Möglichkeit gab, zu ihm aufzuschließen. Vol’jin winkte ihn weiter, und der Mensch eilte davon; sein Humpeln war kaum zu erkennen.

Einer der Mönche auf den Mauern musste sie gesehen haben, denn als sie den Hof erreicht hatten, trat ihnen Taran Zhu entgegen. „Was ist los?“

„Kart’n? Habt Ihr Kart’n? Landkart’n?“ Vol’jin suchte nach dem pandarischen Wort, aber er war nicht sicher, ob er es überhaupt gelernt hatte.

Taran Zhu gab einen scharfen Befehl, dann nahm er Vol’jin beim Arm und führte ihn nach drinnen. Tyrathan Khort folgte ihnen in den Raum, wo sie Chens Gebräu gekostet hatten, auch wenn der Tisch inzwischen längst abgeräumt war. Kurz darauf tauchte noch ein anderer Mönch mit einer Rolle aus Reispapier auf.

Taran Zhu nahm die Rolle und breitete sie auf dem Tisch aus. Vol’jin musste neben ihn treten, damit Norden oben war, und obwohl er die Symbole nicht lesen konnte, entdeckte er mühelos das Kloster und den Berggipfel östlich davon. Sein Blick wanderte ein Stück weiter nach Osten, dann tippte er auf eine Stelle an der nördlichen Küste.

„Was ist das für ein Ort?“

Chen Sturmbräu trampelte die Treppe herunter. „Das ist Zouchin. Ich baue dort eine neue Brauerei.“

Vol’jin studierte den nördlichen und nordöstlichen Teil der Karte. „Warum ist die Insel nicht verzeichnet?“

Chen zog eine Augenbraue nach oben. „Was für eine Insel? Da draußen gibt es nichts.“

Taran Zhu blickte den Mönch an, der die Karte gebracht hatte, und gab ihm auf Pandarisch einen Befehl. Chen wandte sich ab, um dem anderen aus dem Raum zu folgen. „Nein, Meister Sturmbräu, bleibt bitte! Bruder Kwan-ji wird die anderen holen.“

Chen nickte und kehrte an den Tisch zurück. Das Lächeln, das seine Ankündigung über die Brauerei in Zouchin begleitet hatte, war inzwischen völlig verschwunden. „Welche Insel?“

Der Shado-Pan-Mönch verschränkte die Pfoten hinter dem Nacken. „Pandaria ist nicht nur die Heimat der Pandaren. Es gab eine Zeit, da herrschte ein anderes, ein mächtiges Volk über dieses Land: die Mogu.“

Vol’jin richtete sich auf. „Ich kenne die Mogu.“

Tyrathan blinzelte verwirrt, und Chen kniff die Augen zusammen.

„Dann wisst Ihr, dass Ihre Zeit vorüber ist. Doch dass Ihr es wisst, heißt leider nicht, dass sie es ebenfalls wissen.“ Taran Zhu berührte die nordöstliche Ecke der Karte, woraufhin der ungleichmäßige Umriss einer Insel erschien, so als würden die Nebel, die sie verborgen hatten, langsam auseinanderdriften. „Das ist die Insel des Donnerkönigs. Viele halten sie für eine Legende, nur die wenigsten wissen, dass es sie wirklich gibt. Und wenn Ihr davon wisst, Vol’jin, dann könnten andere, die auch Kenntnis davon haben, großes Unheil heraufbeschwören.“

„Ich wusste nicht davon, bis ich eine Vision hatte.“ Der Troll deutete auf Zouchin. „Gerade hatte ich noch eine. Eine Flotte ist von dieser Insel aufgebroch’n. Eine Zandalari-Flotte. Ihre Absichten können nur böse sein. Wir müssen schnell handeln, wenn wir sie noch aufhalt’n wollen.“


13

Eine schlimme Vorahnung schlängelte sich durch Vol’jins Eingeweide, als er Taran Zhu anblickte. Der Mönch stand so reglos da, als wäre er eine der Steinsäulen, die die Decke stützten. „Was sollen wir tun, Vol’jin?“

Nachdem er und der Mensch einander ungläubig angesehen hatten, breitete der Troll die Hände aus. „Schickt Boten in das Dorf. Ruft die Bürgerwehr zusamm’n. Baut Verteidigungsstellungen auf. Versammelt Eure Elitekrieger und entsendet sie nach Zouchin. Zieht Eure Flotte zusamm’n. Verhindert, dass die Zandalari an Land geh’n.“

Er betrachtete das Papier. „Ich brauche andere Kart’n. Taktische Kart’n. Mit mehr Details.“

Tyrathan trat vor. „Diese Täler sind Engpässe. Wir könnten … Was ist?“

Der alte Mönch reckte das Kinn hoch. „Vol’jin, welche Vorkehrungen trefft Ihr auf Euren Inseln, um Euch gegen Schneestürme zu schützen, so wie den, der hier gewütet hat?“

„Gar keine. Es gibt keine Blizzards auf den Echo-Inseln.“ Ein unheilvolles Gefühl verknotete seinen Magen. „Aber schlechtes Wetter ist beileibe nicht dasselbe wie eine Invasion.“

Der Mönch zog steif die Schultern hoch. „Falls es keine Nacht gäbe, bräuchte niemand eine Laterne. Seit den Tagen vor dem Beginn der Zeit haben die Nebel uns geschützt.“

„Aber Ihr seid nicht wehrlos.“ Tyrathan deutete nach draußen auf den Hof. „Eure Mönche können mit bloßen Händen Holz zerschmettern. Sie können mit Schwertern umgehen, und ich habe sie beim Bogenschießen beobachtet. Sie gehören zu den besten Kämpfern, die ich je gesehen habe.“

„Kämpfer, ja, aber keine Armee.“ Taran Zhu presste die Hände vor seiner Brust zusammen. „Wir sind nur wenige und über den gesamten Kontinent verstreut. Und auch wenn wir Pandarias einzige Verteidigung sein mögen, ist das doch nicht der einzige Sinn unserer Existenz. Wir trainieren die Kampfkünste nicht nur, damit wir töten können. So üben wir das Bogenschießen nicht um des kriegerischen Aspekts willen – wir suchen darin nach einem Gleichgewicht. Für uns ist es ein Mittel, zwei Punkte über eine Distanz hinweg zu verbinden. Es geht darum, Entfernung und Geschwindigkeit, Flugbahn und Wind auszugleichen, die Natur des Pfeils zu erkennen. Wir verteidigen Pandaria, aber vor allem verteidigen wir das Gleichgewicht.“

Vol’jin tippte auf die Karte. „Ihr redet von Philosophie. Aber das hier ist Krieg.“

„Wollt Ihr mir sagen, dass Krieg nur auf der körperlichen Ebene existiert, Troll? Dass es dabei nur um Stahl und Blut und Knochen geht?“ Taran Zhus Augen wurden zu dunklen Schlitzen. „Ihr beide tragt Narben an Eurem Körper. Und Ihr habt Narben, die tiefer sitzen. Der Krieg hat Euch aus dem Gleichgewicht gebracht. Oder Eure Kriegslust.“

Der Troll zischte. „Der Krieg kennt kein Gleichgewicht. Wenn er deine Balance zerstört, war die Balance falsch.“

Chen trat zwischen die beiden. „Ich komme gerade aus Zouchin. Li Li wollte dorthin zurückkehren. Yalias Familie lebt dort. Die Zandalari werden das gesamte Leben dieser Leute aus dem Gleichgewicht bringen. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um dem entgegenzuwirken.“

Der Mensch stimmte ihm mit einem Nicken zu. „Das Mindeste, was wir tun können, ist, die Leute zu warnen. Das Dorf zu evakuieren.“

Taran Zhu schloss die Augen und fasste sich. „Ihr drei stammt aus der Welt jenseits des Nebels. Wegen Eurer Erfahrungen dort schätzt Ihr schnelles Handeln mehr als die Wege, an die wir hier gewöhnt sind. Ihr drängt zur Eile und seht Bedachtsamkeit als Widerstand. Ihr seid taktisch erfahren, aber mich haltet Ihr für blind. Meine Aufgabe als Leiter der Shado-Pan ist es, mich um Größeres zu kümmern.“

Vol’jin schnaubte. „Das Gleichgewicht zu wahr’n?“

„Kein Krieg dauert ewig. Der Krieg gewinnt nur, wenn die Welt sich nicht wieder davon erholen kann. Ihr wollt den Krieg beenden. Ich will ihn besiegen.“

Beinahe hätte Vol’jin eine barsche Entgegnung gezischt, aber etwas in Taran Zhus Worten traf ihn ins Herz. Es beschwor ein Echo herauf: etwas, das sein Vater einst in einem privaten Augenblick mit ihm geteilt hatte, nachdem die Welt vom vormorgendlichen Regen reingewaschen worden war. Er hatte gesagt: „Ich liebe die Welt, wenn sie so ist. Kein Blut, kein Schmerz. Alles nass vor Freudentränen und erfüllt von der Hoffnung auf Sonnenschein.“

Der Troll verbeugte sich und neigte den Kopf. „Die Fähigkeit’n Eurer Mönche können trotzdem etwas bewirken.“

„Das können sie in der Tat. Ihr sollt einige Kämpfer bekommen. Es werden zu wenige sein, um Euren Krieg zu gewinnen, aber doch genug, um unseren Feinden ihren Krieg zu verleiden.“ Taran Zhu atmete langsam aus und öffnete die Augen. „Ich werde Euch achtzehn Mönche geben. Nicht die stärksten und nicht die schnellsten, aber diejenigen, die für Eure Absichten am besten geeignet sind.“

Tyrathans weit offen stehender Mund verriet seine Gedanken. „Achtzehn Mönche, und dazu wir drei.“ Er blickte zu Vol’jin hinüber. „Wie groß war die Flotte in deiner Vision? Zwei Schiffe für jeden von uns?“

„Eher drei Schiffe. Zwei große und ein kleines.“

„Wir werden ihnen die Invasion nicht verleiden, wir werden ihnen nur Lust auf mehr machen.“ Der Mensch schüttelte den Kopf. „Wir brauchen mehr Krieger.“

„Ich würde Euch mehr geben, wenn ich es könnte.“ Der Anführer der Shado-Pan streckte seine leeren Pfoten vor. „Leider werden wir nur einundzwanzig Zouchin rechtzeitig erreichen können, um überhaupt etwas zu bewirken.“


Vol’jin hatte erwartet, dass es ein vertrautes Gefühl sein würde, sich für den Krieg zu rüsten, und dass dieses Ritual eine Verbindung zu seiner Vergangenheit wiederherstellen könnte. Doch die Pandaren-Rüstung bereitete ihm nichts als Frustration. Sie war zu kurz und doch zu groß, und die gesteppte Seide fühlte sich viel zu leicht an, um wirksamen Schutz zu bieten. Die dünnen Metallstreifen, die mit hellen Schnüren zusammengebunden waren, und die Brustplatte aus lackiertem Leder hingen tief herab, wo sie es nicht sollten, und ließen ihn runder aussehen, als er war. Ein Mönch arbeitete eilends daran, den Panzerrock unter der Brustplatte zu verlängern, aber Vol’jin schwor sich dennoch, bei der erstbesten Gelegenheit einem Zandalari die Rüstung abzunehmen und dann diese zu tragen.

Da musste er lachen. Er war zwar zu groß für eine Pandaren-Rüstung, aber zu klein für einen Zandalari-Körperpanzer. Er hatte schon mit ihnen zu tun gehabt, und er wusste, dass sie mindestens einen Köpf größer waren als er, oder zwei Köpfe, wenn man ihre Arroganz mit maß. Doch obwohl ihm nicht gefiel, wie sie auf alle anderen Trolle als Untergebene herabblickten, konnte auch er nicht leugnen, dass ihre schlanken Glieder und erhabenen Gesichter schön anzusehen waren. Einmal hatte er gehört, wie ein Mensch sie die „Elfen unter den Trollen“ nannte. Die Zandalari hatten das als bodenlose Beleidigung empfunden, und Vol’jin hatte sich über ihre Empörung amüsiert.

Während man seine Rüstung anpasste, kündete lautes Klirren und Klappern von den Vorbereitungen für die Schlacht. Schließlich überreichte Chen ihm stolz ein Doppelklingenschwert. „Ich hatte dem Schmied aufgetragen, die Griffe von zwei Krummschwertern abzuschlagen, die Schäfte zusammenzunieten und sie dann mit Haifischhaut über Bambus zu umwickeln. Es ist zwar nicht deine Gleve, aber es sieht immerhin Furcht einflößend aus.“

„Und es wird noch Furcht einflößender sein, wenn seine Klinge Zandalari-Blut getrunken hat.“ Vol’jin nahm das Schwert am Griff und wirbelte es herum, dann hielt er inne, aber die Klingen zitterten weiter und summten dabei unheimlich. Chen hatte recht: Es war nicht seine Gleve, aber sie war hervorragend ausbalanciert. „Du kannst also mehr als nur Bier brau’n.“

„Nein. Es war Bruder Xiao, einer der Mönche, die mit uns getrunken haben.“ Chen lächelte. „Ich sagte ihm, er solle sich von den Erinnerungen inspirieren lassen, die das Gebräu in dir heraufbeschworen hatte.“

„Er hat gute Arbeit geleistet.“

Tyrathan pfiff leise, als er auf den Gang hinaustrat. Er trug einen langen Waffenrock aus Leder, auf den Metallplatten genietet waren, dazu einen spitz zulaufenden Helm mit einer Kettenbrünne, die seinen Nacken schützte. Er hielt zwei Bögen und ein halbes Dutzend Pfeilköcher in den Händen. „Nette Gleve. Du wirst sie zur Genüge erproben können.“

Der Mensch warf Vol’jin einen Bogen zu. „Das sind die besten, die es hier in der Waffenkammer gibt. Ich habe sie abgescheuert, und die besten Pfeile habe ich auch ausgesucht. Alle mit Übungsspitzen – die Kampfpfeile wurden an Mönche anderswo im Land geschickt.“

Vol’jin nickte. „Dann muss man also genau ziel’n.“

„Bei Trollen stelle ich mir eine Linie zwischen ihren Ohrläppchen vor, dann verschiebe ich sie drei Fingerbreit nach unten und ziele auf die Mitte. So erwischt man ganz leicht die Wirbelsäule, und die Zunge nimmt der Pfeil beim Austritt auch noch mit.“

Chen blickte ihn angewidert an. „Ich glaube, was Vol’jin sagen wollte …“

„Ich weiß, was er gemeint hat.“ Der Troll blickte Tyrathan an. „Das sind Zandalari, also nimm besser vier Fingerbreit. Ihre Ohr’n sitzen höher.“

Chen und Tyrathan folgten ihm auf den Hof. Die Mönche, die zu ihrer Gruppe gehörten, waren alle ähnlich gekleidet wie der Mensch, mit dem Unterschied, dass das Tigeremblem des Klosters Brust und Rücken ihrer Rüstung zierte. Zudem hing ein einzelner Stoffstreifen von der Spitze eines jeden Helms herab, die eine Hälfte rot, die andere blau. Taran Zhu hatte nicht gelogen; das waren nicht die Pandaren, die Vol’jin ausgewählt hätte, aber er vertraute darauf, dass der Meister der Shado-Pan seine Leute kannte. Kurz war er überrascht, als er Yalia Weisenwisper unter den achtzehn sah, dann erinnerte er sich daran, dass sie ihr Heimatdorf verteidigten und dass ihr Wissen über die Gegend von unschätzbarem Wert sein würde.

Als er die Treppe zu der Ebene zwischen Kloster und Berg hinabstieg, erkannte Vol’jin zudem, warum Taran Zhu ihnen nur eine so kleine Einheit mitgab. Elf geflügelte Bestien kauerten unter ihm, geschmeidig, aber gelangweilt. Jeder war ein Doppelsattel umgeschnallt worden, dazu Lederbeutel mit einigen mageren Vorräten. Kleinere Versionen dieser Tiere hatte er schon überall im Kloster gesehen, auf Wandmalereien oder als Statuen in Nischen, aber irgendwie hatte er angenommen, dass es sich dabei nur um eine künstlerische Repräsentation von Drachen handelte.

Yalia winkte sie heran und wies jedem ein Tier zu. „Das sind Wolkenschlangen. In vergangenen Zeiten wurden sie gefürchtet, dann freundete sich eine tapfere junge Frau mit ihnen an. Sie lehrte uns, was sie tun können. Heute gibt es nicht mehr viele von ihnen, aber das Kloster kann auf die Unterstützung eines Schwarms bauen.“

Vol’jin blickte zum Kloster zurück und entdeckte Taran Zhu auf einem Balkon. Der Mönch ließ sich nicht anmerken, dass er ihn überhaupt bemerkte, aber das konnte Vol’jin nicht täuschen. Der alte Pandaren behauptete, unwissend in der Kriegsführung zu sein, aber er wusste nur allzu gut, dass Wissen Macht war, und darum hatte er seine Besucher nur mit einem Mindestmaß an Informationen versorgt. Man hätte Vol’jin sofort von diesen Wolkenschlangen erzählen müssen, aber niemand hatte etwas gesagt.

Man hat mir nichts erzählt, was den Zandalari nutzen könnte, falls sie mich gefangen nehmen.

Zorn flackerte in ihm auf, aber dann fing er sich. Er zog in einen Krieg, aber es war nicht sein Krieg. Die Zandalari fielen in Pandaria ein, nicht auf den Echo-Inseln. Trotzdem: Wenn es nicht mein Krieg ist, warum kämpfe ich dann? Damit Chen eine Brauerei an der Nordküste aufmach’n kann? Um den Zandalari eins auszuwisch’n?