Der Troll löste sich aus dem Griff des Menschen und eilte, so schnell er konnte, hinter ihm her. Als sie den Hügel zur Straße hinaufgestiegen waren, sahen sie Chen mit einer Pandaren reden, die eine Gruppe von Flüchtlingen anführte.
„Das sind die ersten, Onkel. Aber es gibt noch mehr, die wir holen müssen. Sie sind schon in der Vergangenheit von Trollen angegriffen worden, und sie wollen schnellstens hier weg.“
Chen, von dessen Fell bereits Zandalari-Blut tropfte, schüttelte entschieden den Kopf. „Du gehst nicht zurück, Li Li. Auf keinen Fall.“
„Ich muss.“
Vol’jin streckte den Arm aus und legte seine Hand auf ihre Schulter. „Du musst auf ihn hör’n.“
Sie sprang zurück und ging geduckt in Verteidigungshaltung. „Er ist einer von ihnen.“
„Nein, er ist mein Freund. Vol’jin. Du erinnerst dich doch noch an ihn.“
Li Li musterte ihn genauer. „Du siehst besser aus, jetzt wo dein Ohr wieder dran ist.“
Der Schattenjäger richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und streckte den Rücken durch. „Du musst diese Leute nach Süd’n bringen.“
„Aber es werden mehr Trolle kommen, und jemand muss die anderen retten.“
Chen deutete in Richtung Meer. „Die meisten von ihnen haben ihr Dorf noch nie verlassen. Du musst sie zum Tempel des Weißen Tigers bringen, Li Li.“
„Werden sie dort denn sicher sein?“
„Zumindest sind sie dort besser geschützt.“ Vol’jin winkte den Flugmeister herüber. „Du musst die Leute fortbring’n. Die, die nicht rennen können. Die Blauen werden sie herbringen.“
„Guter Plan.“ Tyrathan blickte zur roten Einheit hinüber. „Ich werde derweil mit diesen Mönchen die Zandalari aufhalten.“
„Du?“
Der Mensch nickte. „Du bist verletzt.“
„Du humpelst, und meine Wunden heilen schnell.“
„Vol’jin, was wir hier brauchen, ist meine Art der Kriegsführung. Sie verlangsamen. Ihnen kleine Stiche versetzen. Ihnen wehtun. Wir werden euch die Zeit verschaffen, die ihr braucht, um diese Leute in Sicherheit zu bringen.“ Tyrathan tätschelte einen Köcher voller Zandalari-Pfeile. „Einige Scharmützler haben die hier fallen gelassen, und ich habe vor, sie zurückzugeben.“
„Sehr freundlich von dir.“ Vol’jin lächelte. „Ich werde dir helf’n.“
„Was?“
„Das sind viele Pfeile, und die Flüchtlinge vertrauen auch den anderen. Wir geb’n ihnen Deckung.“ Der Troll nickte den beiden Gruppen von Mönchen zu. „Bringt alle Leute, Pfeile und Bögen her, die ihr find’n könnt. Wir werden uns nach Süd’n und Ost’n zurückfallen lassen. So lock’n wir sie von den anderen fort.“
Tyrathan grinste. „Wir machen uns ihren Stolz zunutze, um sie abzulenken.“
„Die Zandalari braucht’n schon immer eine Lektion in Demut.“
„Richtig. Hört zu, platziert Pfeile und Bögen an aufrecht stehenden Steinen wie denen da, den ganzen Weg bis in die Berge.“ Der Mensch warf Vol’jin ein angedeutetes Lächeln zu. „Ich bin bereit zu sterben, wenn du’s bist.“
„Dann wirst du noch ’ne lange Weile wart’n müssen.“ Der Schattenjäger wandte sich an Chen. „Du übernimmst das Kommando über die Blauen.“
„Du übernimmst die linke Seite, er die rechte. Ich sollte mich um die Mitte kümmern.“
„Dieser Kampf wird uns durstig mach’n, Chen Sturmbräu.“ Vol’jin legte beide Hände auf die Schultern des Pandaren. „Und du bist der Einzige, der etwas brauen kann, um diesen Durst zu stillen.“
„Ohne mich werdet ihr euch bestimmt schrecklich einsam fühlen.“
„Was er sagen will, Chen, ist, dass wir nicht kämpfen, damit du hier draußen mit uns stirbst.“
Der Pandaren blickte Tyrathan an. „Und was ist mit euch beiden?“
Der Mensch lachte. „Wir kämpfen aus reinem Trotz. Für ihn wäre es die größte Schande, wenn er vor mir sterben würde, und mir geht es genauso. Und wir werden durstig sein. Sehr durstig.“
Vol’jin nickte in Richtung der Flüchtlinge. „Außerdem brauchen sie die Führung eines Pandaren, Chen.“
Der Braumeister zögerte einen Moment, dann seufzte er. „Da finde ich einen Ort, den ich mein Zuhause nennen möchte, und doch seid ihr beide es, die ihn verteidigen.“
Der Troll ließ sich von einem Mönch einen zandalarischen Kriegsbogen und einen Köcher geben. „Wenn man selbst kein Zuhause hat, dann ist das Beste, was man tun kann, für das Zuhause eines Freundes zu kämpfen.“
„Die Schiffe haben Anker geworfen. Sie lassen Boote zu Wasser.“
„Gehen wir.“
Einen Moment lang fühlte es sich für Vol’jin eigenartig an, eine gepflasterte Straße entlangzugehen, die zu beiden Seiten mit Pandaren-Mönchen gesäumt war, und einen Menschen neben sich zu haben. Der gesamte Erfahrungsschatz seines Lebens hatte ihn nicht auf das hier vorbereiten können. Gejagt und von Schmerzen geplagt, ohne Heimat und von vielen für tot gehalten fühlte er sich dennoch völlig lebendig.
Er blickte zu Tyrathan hinüber. „Die Größten von ihnen sollt’n wir zuerst erschießen.“
„Gibt es dafür einen besonderen Grund?“
„Größere Ziele.“
Der Mann lächelte. „Es sind übrigens viereinhalb Fingerbreit.“
„Du weißt, ich werde nicht auf dich wart’n.“
„Erledige einfach nur den Kerl, der mich erledigt.“ Tyrathan winkte ihm zu und eilte dann nach Osten davon, der blauen Einheit nach, die zum Dorf ging.
Vol’jin ging geradeaus weiter, während die Roten erschrockene Pandaren aus Schatten und Türeingängen hetzten. Die Einheimischen hatten augenscheinlich schon Trolle gesehen, und nach der Art zu schließen, wie sie vor ihm zurückwichen, wohl meistens in ihren Albträumen. Vielleicht begriffen sie sogar, dass er hier war, um ihnen zu helfen, dennoch konnten sie nicht anders, als ihn zu fürchten.
Das gefiel Vol’jin. Der Grund dafür war aber ein anderer als bei den Zandalari, wie er erkannte; er wollte nicht durch Furcht herrschen, noch glaubte er, dass jeder Unterlegene ihn fürchten sollte. Vielmehr lag es daran, dass er sich ihre Angst verdient hatte. Er war ein Schattenjäger. Er war ein Schlächter von Menschen und Trollen und Zandalari. Er hatte seine Heimat befreit. Er führte seinen Stamm an, und er hatte den Kriegshäuptling der Horde beraten.
Garrosh selbst fürchtete mich so sehr, dass er mich ermorden ließ.
Einen Herzschlag lang erwog er, direkt zur Anlegestelle zu marschieren, auf die mehrere große Ruderboote der Zandalari zuhielten, und sich ihnen zu zeigen. Er hatte schon früher gegen sie gekämpft, aber er bezweifelte, dass seine Gegenwart hier sie überraschen könnte. Mehr noch, es würde ihnen zeigen, dass sie nur ein unvollständiges Bild von ihrem Feind hatten.
Ein Teil von ihm erkannte, dass er in der Vergangenheit dennoch genauso gehandelt hätte. So wie er Garrosh gegenübergetreten war und ihm gedroht hatte, als er die Dunkelspeertrolle aus Orgrimmar fortbrachte, hätte er den Zandalari seinen Namen entgegengebrüllt und sie herausgefordert, ihn zu holen. Er hätte ihnen gezeigt, dass er keine Angst hatte, auf dass seine Furchtlosigkeit die Tiefen ihrer Herzen mit Grauen erfüllte.
Er legte einen Pfeil an. Tief in ihren Herzen müssen sie Angst haben. Er zog die Sehne zurück, dann ließ er los, und der Pfeil mit der gezackten, Fleisch zerfetzenden Spitze flog davon. Sein Ziel war der Troll, der im Bug des vordersten Bootes saß und nur darauf wartete, an Land zu springen, sobald der Kiel über den Sand schabte. Er sah das Geschoss nicht einmal kommen, obwohl es direkt auf ihn zukam; ein tödlicher Fleck. Der Pfeil drang in seine Schulter ein, streifte die Rückseite des Schlüsselbeins und bohrte sich dann parallel zu seiner Wirbelsäule bis zur Befiederung in seinen Körper.
Der Troll brach zusammen und kippte auf die Bootswand, dann rutschte er darüber hinweg und fiel von Bord. Seine Füße waren das Letzte, was unter den Wellen verschwand, während das Ruderboot kurz aus dem Gleichgewicht geriet und nach Steuerbord krängte, bevor es sich wieder aufrichtete.
Gerade rechtzeitig, damit Vol’jins zweiter Pfeil den Troll am Ruder erwischte.
Nun duckte der Dunkelspeer sich wieder und drehte sich um. Sosehr es ihm auch gefiel, ratlose Soldaten in einem schwankenden Boot zu beobachten, hätte ihn dieser Luxus das Leben gekostet. Bereits jetzt bohrten sich vier Pfeile in die Wand, vor der er gestanden war, und zwei weitere zischten darüber hinweg.
Vol’jin zog sich zu den Ruinen des nächsten Gebäudes zurück, wo ein Mönch gerade einem alten Pandaren mit zerschmetterter Schulter half, unter den Trümmern hervorzukriechen. Weiter draußen in der Bucht war inzwischen auch das letzte Beiboot zu Wasser gelassen worden, aber da rammte sich ein Pfeil ins Ohr des Steuermannes, sodass er um die eigene Achse gewirbelt und von Bord geschleudert wurde.
Das vorderste Boot erreichte nun den Strand, und ein paar der Zandalari rannten in Deckung, während andere das Boot umdrehten und sich dahinter zusammenkauerten. Die beiden nächsten Beiboote kamen ebenfalls schnell näher, und auf dem letzten hatte eine tapfere Seele den Posten des Steuermannes übernommen, doch nur, um einen Pfeil in die Eingeweide zu bekommen. Der Troll krümmte sich, behielt die Hand aber auf dem Ruder und lenkte das Boot gen Strand, während die anderen Trolle mit aller Kraft ruderten.
Der Zandalari, der die Invasion von einem Schiff weiter draußen leitete, gab energisch Zeichen, woraufhin die Flotte im Hafen ihren Angriff mit den Belagerungsmaschinen wiederaufnahm. Steine flogen in hohem Bogen durch die Luft, und wo sie landeten, stob eine gewaltige Sandfontäne auf. Vol’jin hielt es zunächst für Verschwendung, doch dann rannte einer der Zandalari zu einem halb im Strand begrabenen Stein und warf sich dahinter auf den Boden.
Nun landete ein weiterer Felsbrocken, dann noch einer.
Und so begann das Spiel. Während die Zandalari vorrückten, schlich Vol’jin sich an ihrer Flanke entlang und schoss Mal um Mal. Die Späher an Bord der Schiffe richteten die Katapulte dann auf sein Versteck aus und zermalmten es zu Holzsplittern. Im Osten taten sie dasselbe mit Tyrathans Unterschlüpfen, obwohl Vol’jin nicht wusste, wie sie ihn jedes Mal entdeckten; er konnte den Menschen jedenfalls nicht sehen.
Jede Welle von Steinbrocken trieb den Dunkelspeer weiter zurück und ließ die Angreifer weiter vorstoßen. Von den Schiffen wurden noch mehr Boote zu Wasser gelassen, und einige der Zandalari nahmen sogar ihre Rüstung ab und tauchten durch die Bucht, ihre Pfeile und Bögen sicher in Öltuch eingewickelt. Während die Flotte also einen breiten Abschnitt im Zentrum von Zouchin in Schutt und Asche legte, erreichten mehr und mehr Truppen den Strand, um das Dorf einzunehmen.
Jeder Pfeil des Schattenjägers traf sein Ziel, aber nicht alle töteten es auch. Die Rüstungen schwächten einige Schüsse ab, und manchmal zeigten seine Feinde ihm auch nur einen Fuß, oder ein Fleck blauer Haut leuchtete im Gewirr eingestürzter Holztrümmer auf. Tatsache war aber, für jeden Pfeil in seinem Köcher hatten die Schiffe ein Dutzend Katapultsteine und ein halbes Dutzend Soldaten.
Also zog Vol’jin sich zurück. Dabei entdeckte er nur einen toten Mönch, eine Frau. Sie war von zwei Pfeilen durchbohrt worden, und den Fußspuren nach zu urteilen, die in südlicher Richtung davonführten, hatte sie zwei Kinder vor den Geschossen abgeschirmt, die ihr Leben forderten.
Er folgte der Spur der Kinder durch das Dorf, und gerade als die Fußabdrücke auf die offene Fläche hinter einem eingestürzten Stelzenhaus abbogen, hörte er plötzlich ein Scharren. Rasch wirbelte er herum, und ein Zandalari-Krieger tauchte in seinem Blickfeld auf. Vol’jin griff über die Schulter nach einem Pfeil, aber sein Gegner war schneller.
Das Geschoss bohrte sich ihm in die Seite und trat an seinem Rücken wieder hervor. Schmerzen pulsierten durch seine Rippen, ließen ihn taumeln, dennoch streckte er die Hand nach seiner Gleve aus, während er auf ein Knie stürzte und der Troll den nächsten Pfeil anlegte.
Der Zandalari grinste breit und triumphierend und zeigte dabei stolz seine Zähne.
Da bohrte sich ein Pfeil zwischen diese Zähne. Eine halbe Sekunde lang sah es aus, als würde der Troll Federn ausspeien, dann rollten seine Augen nach oben, und er kippte hintenüber auf den Boden.
Langsam wandte Vol’jin sich um und folgte der Flugbahn des Pfeils. Er blickte auf hohes Gras auf der Kuppe eines Hügels. Hat ihm in den Mund geschoss’n. Viereinhalb Fingerbreit. Und er wollte noch, dass ich den Kerl erledige, der ihn erwischt.
Langsam senkte sich Staub auf den zuckenden Zandalari. Vol’jin griff nach hinten und brach die Pfeilspitze ab, dann zog er den Schaft aus seiner Brust. Mit einem Lächeln sah er, wie die Wunde sich schloss, anschließend nahm er dem Toten seinen Köcher ab und setzte kämpfend seinen Rückzug fort.
Es sollte regnen. Die helle Sonne verhöhnte Khal’ak, ohne sie zu wärmen. Sie stand hoch aufgerichtet im Bug ihrer Barke, weniger weil es einen so gebieterischen Eindruck machte, sondern vor allem, weil sie von hier aus den besten Blick auf den Strand hatte.
Die Barke stieß ein dahintreibendes Beiboot aus dem Weg, das in der leichten Strömung tanzte. Der Steuermann war mit der Hand auf dem Ruder und einem Pfeil in den Eingeweiden gestorben. Es musste ein schmerzhafter Tod gewesen sein, doch sein Gesicht ließ nichts davon erkennen. Entschlossen starrte er nach vorne, auch wenn seine Augen sich getrübt hatten und Fliegen darauf herumkrochen.
Sand zischte unter dem Rumpf des Schiffes, als es sanft auf den Strand rollte. Mit flatterndem Umhang sprang Khal’ak vom Bug herab. Zwei Krieger erwarteten sie bereits – Hauptmann Nir’zan und ein größerer, muskelbepackter Troll mit einem gewaltigen Schild. Die beiden nahmen augenblicklich Habtachtstellung ein und salutierten vor ihr.
Sie erwiderte den Gruß, legte aber all ihr Missfallen in die Geste. „Habt ihr herausgefunden, was passiert ist?“
„Mit größtmöglicher Gewissheit, Mylady.“ Nir’zan blickte landeinwärts. „Um Überblick zu gewinnen und die Lage zu studier’n, hab’n wir Späher zu einer Bucht im Westen geschickt. Zwei von ihnen sind an Land geschwomm’n, wobei sie zwei Pandaren-Fischer töteten, und hab’n dann eine Anhöhe gesichert. Dort blieb’n sie wie befohlen auf Position, bis wir sie verhört haben. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Späher landeinwärts vorrückt’n, verlief alles nach Plan.“
Sie machte eine Handbewegung, die die Trümmerlandschaft ringsum mit einschloss. „Aber danach wohl nicht mehr.“
„Ja, Mylady.“
„Warum?“
Der Zandalari-Krieger verengte die Augen. „Das Wie ist wichtiger als das Warum, Mylady. Kommt!“
Sie folgte ihm in das Dorf, zu den Überresten eines Hauses, knapp fünfzig Schritte vom Strand entfernt. Als sie näher kamen, ging ein weiterer Soldat auf die Knie und zog eine Schlafmatte aus Schilf zurück, die ausgebreitet worden war, um einen Fußabdruck zu erhalten.
Eiswasser rann durch Khal’aks Körper. „Und das war keiner von uns?“
„Nein. Er stammt definitiv von einem Troll, aber er ist zu klein für einen Zandalari.“