Tyrathan nickte. „Laut Protokollbuch werden die Zandalari einen Durchgang im Osten des Tals suchen. Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass sie schon hier sind.“
Der Troll lachte. „Was sollten das denn für Anzeichen sein, mein Freund? Dass wir einen schwarz’n Fleck über der Landschaft sehen? Rauch, der von niedergebrannt’n Dörfern aufsteigt?“
„Nein. Aber zumindest sollte es provisorische Lager geben. Wir können hier warten, bis es dunkel ist, und hoffen, dass der Feind sich uns durch Lagerfeuer offenbart, oder …“
„Oder wir schleich’n uns runter und sehen uns um, für den Fall, dass sie auch auf Lagerfeuer verzichten.“ Vol’jin erhob sich. „Ich bin für Letzteres.“
„Bei Tageslicht finden Pfeile leichter ihr Ziel. Nicht dass es nachts unmöglich wäre, nur schwieriger.“
„Gut. Wir rücken zu diesem kleinen Plateau über der Straße vor. So bewahren wir den Höhenvorteil.“
Tyrathan deutete mit dem Ende seines Bogens. „Falls wir direkt nach Süden gehen und dann einen Haken zurück nach Osten schlagen, können wir vielleicht hinter ihre Marschlinie gelangen. Sie würden uns nicht in einem Bereich vermuten, den sie bereits gesichert haben. Davon abgesehen werden sie die Leute, die sie zur Erfüllung ihrer Mission brauchen, vermutlich nicht in die erste Reihe schicken. Sie werden weiter hinten gehen, wo sie sicher vor etwaigen Gefahren sind.“
„Ja. Find’n wir raus, wer sie sind, und töt’n wir sie.“
Chen warf ihm einen Blick aus schmalen Augen zu. „Und dann schleichen wir uns wieder davon.“
Troll und Mensch sahen einander kurz an, dann nickte Vol’jin. „Wenn möglich nach Süden und Westen. Demselben Weg folgend, auf dem wir gekomm’n sind.“
„Dann würden wir zumindest das Terrain kennen, und wir wüssten, wo wir Fallen aufstellen können.“ Tyrathan senkte seinen Bogen. „Wenn man bedenkt, dass wir sieben gegen die Elite von zwei Reichen antreten, ist das nicht der dümmste Plan, der uns hätte einfallen können.“
„Wohl wahr.“ Der Troll zog den Rucksack auf seinem Rücken zurecht. „Aber es ärgert mich, dass mir nichts Besseres einfällt.“
„Das muss es doch gar nicht, Vol’jin.“ Chen rückte ebenfalls die Riemen seines Rucksacks gerade. „Wir sind hier, um ihnen ein Stich zu versetzen, und dafür sollte dieser Plan vollauf genügen.“
Obwohl sie durch ein goldenes Tal streiften, das seit unzähligen Jahren kaum ein Außenstehender betreten hatte, empfand Vol’jin keine Furcht. Er wusste, dass er eigentlich angespannt sein sollte, und er traf ganz bewusst alle Vorkehrungen, um nicht entdeckt zu werden. Doch er spürte keinen Schauder über sein Rückgrat kriechen, und das Fell in seinem Nacken stellte sich nicht auf. Es war, als würde er eine Rush’kah-Maske tragen, an der alle Angst abperlte.
Doch er wusste, dass es etwas völlig anderes war. Er träumte nicht, als sie im Tal der Ewigen Blüten schliefen weil er keine Träume brauchte. Durch dieses Tal zu schreiten war, als würde er sich durch eine lebendige Vision bewegen. Die Realität an diesem Ort war anders, und sie beeinflusste ihn. Er spürte eine Arroganz, die teilweise aus seinem Trollerbe geboren war, und der Geist des Mogu-Reiches streichelte ihn, wann immer er das nachklingende Echo der Mogu-Magie berührte.
Hier, an diesem Ort, wo große Völker große Macht errungen hatten, gab es für ihn keine Furcht. Drüben, auf den weit entfernten Stufen des Mogu’shan-Palastes, wo seine Feinde vermutlich gerade in ihrem Lager schliefen, hatten stolze Mogu-Väter einst die Köpfe ihrer Söhne nach Westen gedreht und ausholende Handbewegungen gemacht, die das gesamte Tal umfassten. Sie hatten ihnen gesagt, dass all dieses Land ihnen gehörte und das Land, das daran anschloss, ebenfalls. Dass sie damit tun konnten, was immer ihnen beliebte, dass sie dort ihre Herzenswünsche verwirklichen könnten. Es gab dort nichts, was ihnen gefährlich werden könnte, denn jeder und alles in diesem Land fürchtete die Mogu.
Es war dieser letzte Gedanke, der Vol’jin von dem Bann befreite. Er wusste, was es hieß, gefürchtet zu werden, und es gefiel ihm, das seine Gegner Angst vor ihm hatten, aber diese Furcht war aus seinen Taten geboren. Er hatte sie sich verdient, Schwerthieb um Schwerthieb, Zauber um Zauber, Sieg um Sieg. Er hatte sie nicht geerbt, und er sah sie auch nicht als sein Geburtsrecht an.
Dieses Verständnis unterschied ihn von den jungen Mogu-Prinzen, die von den Stufen auf ihr Reich hinausgeblickt hatten. Denn er verstand die Furcht und konnte sie nutzen. Er spürte ihren Fluss, spürte Ebbe und Flut der Angst. Doch sie standen darüber, sahen und hörten nur, was sie sehen und hören wollten. Und nie fühlten sie das Bedürfnis, zu den höchsten Höhen hinaufzuklettern, um zu sehen, wie die Welt wirklich aussah.
Als sie an dem Tag, nachdem sie die Hälfte des Tals durchquert hatten, ihr Lager aufschlugen, blickte Tyrathan ihn an. „Du spürst es, oder?“
Vol’jin nickte.
Chen sah von seiner Teeschale auf. „Was spürst du?“
Der Mensch lächelte. „Das beantwortet meine Frage.“
Der Pandaren schüttelte den Kopf. „Was für eine Frage? Was spürst du?“
Tyrathan zog die Augenbrauen zusammen. „Ein Gefühl, dass dieser Ort mir gehört, dass ich hierher gehöre, weil das Land in Blut getränkt ist und ich schon so viel Tod gesät habe. Ist das auch das, was du fühlst, Vol’jin?“
„So ungefähr.“
Chen lächelte und goss sich Tee ein. „Oh, das.“
Der Mann runzelte die Stirn. „Dann spürst du es auch?“
„Nein, aber ich weiß, dass ihr es spürt.“ Der Braumeister blickte sie beide an und zuckte mit den Schultern. „Ich habe diesen Ausdruck in euren Augen schon früher gesehen. Bei dir, Vol’jin, ist er stärker als bei Tyrathan, aber vielleicht kommt mir das auch nur so vor, weil ich noch nicht so oft an seiner Seite gekämpft habe wie an deiner. In jeder Schlacht, an dem Punkt, wenn du am verbissensten kämpfst, tritt dieser Ausdruck auf dein Gesicht. Er ist hart, unerbittlich. Wann immer ich ihn sehe, weiß ich, du wirst gewinnen. Dieser Ausdruck sagt mir, dass du an diesem Tag der beste Krieger auf dem Schlachtfeld bist und dass jeder, der dich herausfordert, sterben wird.“
Der Troll legte den Kopf auf die Seite. „Und diesen Ausdruck habe ich jetzt auch?“
„Nun, nicht wirklich. Ein wenig um die Augen. Ihr habt ihn beide, aber nur wenn ihr glaubt, dass niemand euch beobachtet. Oder wenn ihr nicht bemerkt, dass jemand euch beobachtet. Dieses Gefühl sagt euch, dass das hier euer Land ist, dass ihr es rechtmäßig gewonnen habt und es nicht wieder aufgeben werdet.“ Chen zuckte mit den Schultern. „Angesichts unserer Mission ist das wohl etwas Gutes.“
Der Mensch hielt dem Pandaren seine Tasse hin und nickte, als sie wieder gefüllt war. „Und was fühlst du hier?“
Chen setzte den Trinkschlauch ab und kratzte sich am Kinn. „Ich fühle das Versprechen von Frieden an diesem Ort. Ich denke, ihr beide spürt eher das Erbe der Mogu, aber für mich ist es der Friede, das Versprechen davon. Alles, was ich mir von einem Zuhause wünsche. Das Tal sagt mir, dass ich aufhören kann umherzuwandern – aber ich muss nicht. Ich bin hier willkommen, ganz gleich, wofür ich mich entscheide.“
Er blickte die beiden an, und zum ersten Mal, seit Vol’jin ihn kannte, füllten sich die großen goldenen Augen des Pandaren mit Bedauern. „Ich wünschte, ihr könntet es auch fühlen.“
Vol’jin schenkte seinem Freund ein Lächeln. „Mir reicht es, dass du es fühlst, Chen. Ich habe eine Heimat, und du hast mitgeholf’n, sie zu befreien. Du hast mir mein Zuhause gegeben. Wie könnte ich also nicht glücklich sein, wenn du es bist?“
Ohne sie zu drängen, bat Vol’jin Chen und die Mönche, ihm die Gefühle genauer zu schildern, welche dieser Ort in ihnen wachrief. Sie kamen seiner Bitte bereitwillig nach, und er erfreute sich an ihren Ausführungen. Doch nachdem die Sonne untergegangen war, wehte eine dunkle, kalte Woge aus dem Osten herbei, und die Mönche verstummten. Tyrathan, der auf dem Hügelkamm über ihrem Lager Wache gehalten hatte, hob den Arm.
„Sie sind hier.“
Vol’jin und die anderen kletterten zu ihm hinauf. Dort, im Osten, erstrahlte der Mogu’shan-Palast in hellem Licht. Silberne und blaue Blitze tanzten über seine Fassade und zeichneten ein Bauwerk mit efeuartigen Windungen nach, bevor sie von den Ecken fortstoben. Diese magische Demonstration beeindruckte Vol’jin, aber nicht, weil sie ihm ein Gefühl von Macht vermittelte, sondern vielmehr, weil sie so beiläufig und gleichgültig wirkte.
Chen schauderte. „Jetzt lässt das Gefühl, hier willkommen zu sein, nach.“
„Es lässt nicht nur nach, es wird erstickt.“ Vol’jin schüttelte den Kopf. „Mehr noch, es wird begrab’n, tief unter der Erde. Hier ist jetzt niemand mehr willkomm’n.“
Tyrathan blickte den Dunkelspeer an. „Es ist mehr als eine Bogenschussweite entfernt, aber wir könnten es bis zum Morgengrauen schaffen. Lange bevor die ersten von ihnen aufwachen, um zu beten.“
„Nein. Das ist nur der Eindruck, den sie vermitteln woll’n, um uns zu ködern. Sie möchten, dass wir gerade dann angreifen.“
Der Mensch zog die Braue nach oben. „Wissen sie etwa, dass wir kommen?“
„Sie müssen davon ausgeh’n, dass jemand kommt. Sie werden sich denk’n können, dass wir ihr Protokollbuch gefunden hab’n, also rechnen sie auch damit, dass wir entsprechend handeln.“ Vol’jin deutete zu den Bergen im Süden. „Die Horde und die Allianz haben vermutlich Späher auf den Graten postiert. Sie werden das hier auch seh’n, und sie werden darauf reagieren. Es wird nur ein wenig dauern, bis sie sich auf einen Plan geeinigt haben und sich in Bewegung setz’n.“
„Es sei denn, jemand kommt aus eigenem Antrieb her.“ Tyrathan lachte. „Bis vor ein paar Monaten hätte ich diesen Part übernommen. Ich frage mich, wer jetzt den Helden spielen wird?“
„Das hat keinen Einfluss auf unsere Mission – solange die Helden uns nicht in die Quere komm’n.“
„Ja.“ Der Mensch strich sich mit der Hand über den Bart. „Wir gehen also weiter geradeaus und machen dann einen Bogen nach Osten?“
„Solange nichts diesen Plan vereitelt, ja.“
Auch diese Nacht war frei von Träumen, dennoch war sie nicht wirklich erholsam für Vol’jin. Er überlegte, ob er mit den Loa in Kontakt treten sollte, aber wie alle Götter konnten auch sie launisch sein. Wenn sie gelangweilt oder wütend waren, könnten sie seine Feinde auf seine Gegenwart aufmerksam machen. Zwar stimmte es, was er Tyrathan gesagt hatte: Die Zandalari wussten aller Wahrscheinlichkeit nach, dass sie kommen würden, aber sie wussten nicht, wo genau die sieben Krieger lauerten. Das war ein Vorteil, und angesichts der Natur ihrer Mission war jeder Vorteil Gold wert.
Falls die Sonne am nächsten Morgen aufging, konnte Vol’jin jedenfalls nichts davon sehen. Die Wolken waren noch dichter geworden. Das einzige Licht, das, abgesehen von einem schwachen gelblichen Schimmern, durch sie hindurchdrang, war das Resultat der umhergeisternden Blitze in ihren tiefsten Tiefen. Diese Blitze berührten nie den Boden, als hätten sie Angst vor einer Vergeltung aus dem Mogu’shan-Palast.
Die sieben drosselten gezwungenermaßen ihr Tempo, denn im fahlen Licht häuften sich die Fehltritte. Zudem klang jedes Knirschen von Steinen unter ihren Füßen so laut wie Donner. Wann immer es ertönte, erstarrten sie und lauschten angestrengt nach einer Reaktion. Die Späher hielten sich nun auch näher an der Hauptgruppe, schon allein deswegen, weil die Düsternis die Sicht einschränkte. Aus demselben Grund machten sie auch viel häufiger halt.
Nacht für Nacht wiederholte sich das Blitzspektakel am Mogu’shan-Palast, und jedes Mal verstärkte es die Gefühle, die das Tal in ihnen wachrief. Dieser Ort gehörte rechtmäßig Vol’jin, und die, die jetzt in dem Palast hausten, wollten ihn herausfordern. Das alte Bauwerk war wie eine Flamme, und sie waren die Motten, aber keiner der sieben gab diesen Gefühlen nach.
Sie entdeckten keinerlei Zandalari-Späher, und das beunruhigte Vol’jin. Hätte er das Kommando über ihre Truppen gehabt, hätte er leichte Einheiten weit vorgeschickt, vielleicht sogar bis zur westlichen Mauer, die das Tal von der Heimat der Mantid genannten Kreaturen trennte. Die Geschichten, die man sich über diese Wesen erzählte, waren von der Art, mit der man widerspenstigen Kindern einen Schrecken einjagte – und Vol’jin meinte damit Trollkinder und nicht die schreckhaften jungen Pandaren. Diese Grenze nicht zu sichern, wäre ein grobes Versäumnis, vor allem, da die Zandalari ja wussten, dass sie mit einem Angriff rechnen mussten.
Nach zwei Tagen ohne Sonne stießen sie schließlich auf die ersten Anzeichen der Zandalari. Bruder Shan, der die Spitze übernommen hatte, verharrte am frühen Abend in der Senke zwischen zwei größeren Hügeln. Sie hatten den Rand der südlichen Bergkette erreicht und zogen nun nach Osten durch die Gebirgsausläufer. Der Mönch gab ein Zeichen, woraufhin Vol’jin und Tyrathan nach vorne traten, dann zog Shan sich zu der Stelle zurück, wo die anderen warteten.
Das Bild, das sich unter ihnen erstreckte, ließ Vol’jins Blut zu Eis werden. Eine Kompanie von rund zwanzig Zandalari-Kriegern in leichter Rüstung hatte dort einen Außenposten errichtet. Dazu hatten sie eine Gruppe von Bäumen gefällt und die Zweige mit dem goldenen Laub abgehackt, anschließend die Enden der Stämme und größeren Äste zugespitzt und sie in einem Kreis rings um ihr Lager in den Boden gerammt. In allen Richtungen zeigten Spitzen der Pfähle nach außen, nur an der westlichen Seite gab es eine kleine Lücke. Aber da sich die Enden des Ringes dort überlappten, musste ein Angreifer sich erst zwischen den beiden Reihen hindurchschlängeln, um ins Lager zu gelangen.
Die Nasenlöcher des Trolls blähten sich, aber er hielt sein wütendes Schnauben zurück. Einen Hain so wunderschöner Bäume für einen unbarmherzigen Außenposten zu roden, kam ihm geradezu wie Blasphemie vor. Ein kleines Verbrechen, aber auch dafür werden sie bezahl’n.
In der Mitte des Lagers, direkt neben einem großen Feuerplatz, hatte man zwei weitere Baumstämme in den Boden gerammt, beide zwanzig Fuß hoch und durch knapp die Hälfte ihrer Länge voneinander getrennt. An der Spitze jedes Pfahls waren Seile befestigt worden, und sie führten hinab zu den Handgelenken eines Kriegers. Sein blauer Wappenrock hing in Fetzen von seiner Mitte und wurde nur noch durch einen unsichtbaren Gürtel zusammengehalten. An zahlreichen Stellen übersäten Schnitte sein nacktes Fleisch, nie wirklich tief, aber tief genug, um Schmerzen zu bereiten und Blut zum Vorschein zu bringen.
Vol’jin war sich sicher, dass er den Menschen noch nie gesehen hatte, dennoch kam er ihm bekannt vor. Da waren noch vier weitere Männer, alle in zerrissene Wappenröcke gekleidet, die vermutlich dem des Folteropfers glichen; sie waren mit einem Seil aneinandergefesselt und kauerten sich unter den Augen ihrer Zandalari-Wachen zusammen.